Ralf Bockstedte – Ein Fußballtrainer auf Rädern

Ralf Bockstedte war 16, als er zum letzten Mal Fußball spielen konnte. Nun macht er als erster Rollstuhlfahrer Deutschlands seinen Trainerschein.

Manchmal träumt Ralf Bockstedte davon, wie er hinter einem Ball herjagt, ihn in den Strafraum flankt oder per Fallrückzieher in die Maschen drückt. Ziemlich oft sogar, Fußball war schon immer seine große Liebe. Doch Bockstedte sitzt im Rollstuhl, das letzte Mal hat er vor 23 Jahren ein Tor geschossen. Seitdem vermisst er den Geruch von Rasen und Schweiß, den Adrenalinkick beim Elfmeter und das Hochgefühl des Sieges. Nun hat er sich zumindest einen Teil davon zurück geholt. Der 39-Jährige ist der erste Rollstuhlfahrer, der in Deutschland einen Trainerschein macht.

Von Lars Wallrodt

 

Donnerstag, kurz nach dem Mittagessen. In der Sportschule Kaiserau ist Hochbetrieb. Die Mannschaft von Borussia Dortmund wird gleich kommen, um sich auf ein Heimspiel vorzubereiten. Gitter werden aufgestellt, aus den Fenstern des angeschlossenen Hotels schütteln Zimmermädchen die Bettdecken aus. Eine Gruppe von Fußballern in Sporthosen und Bällen unter dem Arm bahnt sich ihren Weg zu einem der Trainingsplätze. Standardsituationen stehen heute auf dem Lehrplan, die Männer bereiten sich auf ihren Trainerschein vor: C-Lizenz, unterste Stufe. Mit ihnen rollt Ralf Bockstedte auf das Feld.

Während sich seine Kameraden aufwärmen, bespricht Bockstedte das Programm mit Verbandssportlehrer René Hecker. Ohne den ehemaligen Zweitligaspieler wäre er nicht hier, denn normalerweise werden Rollstuhlfahrer vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) nicht zu Trainerlehrgängen zugelassen. Sie können den vorgeschriebenen Leistungstest nicht absolvieren, kaum aktiv an den Praxiseinheiten teilnehmen. Bockstedte hat eine Ausnahmegenehmigung. Hecker hat für ihn gekämpft.

Feinmotorik der Hände ist gestört

„Hier dabei zu sein, bedeutet mir unheimlich viel“, sagt Bockstedte. „Draußen mit den Jungs auf dem Platz zu sein, erinnert mich an früher. Das gibt mir ein stückweit das Gefühl, meine Beine zurückzubekommen.“ Er spricht langsam, manchmal verrutscht ihm ein Wort. Sein Rückenmark ist geschädigt, ganz oben, im Bereich des Halswirbels C5. Die Feinmotorik der Hände ist gestört und die Mundmotorik. Seine Beine sind gelähmt, doch er hat noch Gefühl in ihnen.

Er war dreieinhalb Jahre alt, als seine Eltern merkten, dass sich ihr Sohn komisch bewegt. Nach unzähligen Untersuchungen die Diagnose: Das Rückenmark wuchs nicht so schnell mit wie der Rest des Körpers, es dehnte sich. Heute sind 14 Fälle dieser Art bekannt, die Krankheit ist so selten, dass sie nicht einmal einen Namen hat.

Die Entwicklung verlief wellenförmig: Mal konnte er normal laufen, mal zog er ein Bein her. Als er sechs Jahre alt war, nahm sein Opa ihn mit „auf Schalke“. Der alte Herr war Ehrenmitglied beim Traditionsverein und hatte eine Karte für den Ehrenbereich. „Plötzlich stand Klaus Fischer vor mir, der Stürmer, mein Idol. Er war gerade verletzt und führte mich durchs Parkstadion. Zum Schluss schenkte er mir sein Trikot.“ Es hängt noch heute in Bockstedtes Büro.

Er habe immer gewusst, was ihm blüht, sagt er, und trotzdem hatte er eine schöne Kindheit. „Egal, wie akut es gerade war: Ich war in jeder freien Minute draußen, habe von morgens bis abends gekickt“, erzählt er, und die Augen leuchten, wenn er sich an die Aschenplätze seiner Heimatstadt Essen erinnert, an die scheppernden Metallgitter darum und die Tore ohne Netze. Als er 16 Jahre alt war, riss das Rückenmark ein. Ab da saß er im Rollstuhl.

„Nun mal mit Schmackes“

Mit dem rollt er nun auf Höhe der Mittellinie hin und her, während die anderen sich mit Flanken und Eckbällen abmühen. Bockstedte feuert an: „Kommt, Jungs, nun mal mit Schmackes.“ Die flachsen zurück: „Hey, nicht so laut, sonst machen wir Zielschießen mit Dir.“ Er habe ihnen schnell die Berührungsängste genommen, sagt er, weil er immer offen mit seiner Behinderung umgegangen sei. „Jeder kann sehen, dass ich behindert bin. Ich sehe das als Schule fürs Leben an. Jeder hat doch sein Kreuz zu tragen. Ich sitze jedenfalls lieber im Rollstuhl, als irgendeinen versteckten Defekt zu haben.“

Mit dem Schicksal zu hadern, ist nicht Bockstedtes Fall. Nach seinem Abitur studierte er Jura, ist heute ein vielbeschäftigter Anwalt. Die Liebe zum Fußball hat ihn nie verlassen. Er hat drei Schulfreunde, die später Profis wurden, alle bei Rot-Weiß Essen. An jedem Wochenende rollte er über die Sportplätze der Region. Und als ihn vor drei Jahren seine Kanzleipartner fragten, warum er eigentlich nicht Spielerberater sei bei all der Leidenschaft für den Fußball, wusste er keine Antwort. Er grübelte, informierte sich – und gründete eine Agentur: Players‘ Interests.

„Als Anwalt hätte ich keine Beraterlizenz gebraucht“, sagt Bockstedte. Er machte sie trotzdem. Er möchte es gut machen, besser als die vielen anderen Berater, die auf das schnelle Geld schielen. „Ich sehe gerade die jungen Spieler, die ich berate, ein bisschen als meine Kinder an. Ich möchte ihnen Ratschläge geben, die ich meinem Sohn auch geben würde“, sagt er. Heute hat die Agentur 40 Klienten, der ehemalige Schalker Profi Ingo Anderbrügge ist Sportdirektor, vier Scouts sichten den Markt.

Nie auf Augenhöhe

Doch etwas fehlte, dachte Bockstedte. Er sei immer der Anwalt, der Berater der Spieler gewesen, sagt er, irgendwo aber nie auf Augenhöhe mit ihnen. Darum die Idee mit dem Trainerschein, die er eines Tages René Hecker vortrug. Der Verbandssportlehrer des „Fußball- und Leichtathletikverbands Westfalen“ (FLVW) kämpfte für seinen Freund und das erfolgreich.

Nun haben die beiden die zweite von drei Wochen hinter sich. Anfangsschwierigkeiten wurden unbürokratisch gemeistert. Das Sporthotel hatte keine behindertengerechten Zimmer, also wurde für Bockstedte die Badezimmertür ausgehängt. Verhakt sich der Rollstuhl im Rasen, packen die Kollegen mit an. Und verschüttet Bockstedte in der Gaststätte mal ein paar Tropfen Wasser, weil die Hände nicht so wollen wie der Kopf, poltert der Wirt mit gespieltem Ernst: „Ralf, dat nächste Mal kriegste Pattex an die Hände.“ Liebevoller könnte auch eine Umarmung nicht sein.

Bockstedte hat seine ersten Trainingseinheiten geleitet, wurde gleich zum Kurssprecher und Kassenwart gewählt . „Natürlich kann ich den Spielern keine Übungen vormachen“, sagt er, „aber als Rollstuhlfahrer habe ich vielleicht sogar einen Vorteil, was das Motivieren angeht.“ Dann lacht er: „Wenn es zur Kabine zum Beispiel ein paar Stufen runtergeht, müssen mich die Jungs runter heben. Und schon haben wir die erste teambildende Maßnahme durchgeführt.“

Ob er nach der Prüfung eine Mannschaft übernehmen wird, weiß er noch nicht. Erste Anfragen gab es schon, und natürlich würde es ihn reizen.

Zum Orginaltext in:       DIE WELT 
Foto: Reto Klar

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