Blick aus dem Fenster


Kürzlich durfte ich eine Bewohnerin zu ihrer Therapiesitzung begleiten. Diese fand im tiefsten Graubünden oberhalb der Rheinschlucht Ruinaulta statt. Die Zugfahrt dorthin dauerte knapp drei Stunden und ich kam mir ein bisschen so vor, als wäre ich gerade auf Klassenfahrt. Die wilde Natur, der Rhein in seiner vollen Pracht und die schneebedeckten Berge haben mich buchstäblich in den Bann gezogen. Ich konnte einfach nicht anders, als ständig aus dem Zugfenster zu starren. Zum Glück waren an diesem Tag nur wenige Pendler oder Touristen unterwegs und so konnten wir uns immer die besten Plätze im Zug ergattern.

Am Zielort angekommen mussten wir noch einen kurzen Fussmarsch zurücklegen, bevor wir die Praxis erreicht haben. Nach einem herzlichen Empfang in einer der schönsten Praxen, die ich je gesehen habe, startete die Therapiesitzung – und schon nach den ersten fünf Minuten wurde mir eines klar: nach Klassenfahrt fühlt sich das nun definitiv nicht mehr an! Nein, es fühlte sich an wie harte Arbeit – für den Therapeuten, für mich, aber vor allem für die Bewohnerin, welche ich begleiten durfte. Die wilde Natur, der tiefblaue Rhein und die schneebedeckten Berge verloren auf einmal ihren Glanz und ich wurde in die Realität zurückgeschleudert. In eine Realität, worin Glanz wenig verloren hatte… die Themen waren schwer, die Sitzung war streng und die schönen Räumlichkeiten der Praxis bekamen mit einem Mal eine ganz andere Bedeutung: Anstrengung, Trauer, Unsicherheit, aber auch Hoffnung. Ja, ganz viel Hoffnung. Hoffnung auf ein leichteres Gefühl, Hoffnung auf Vertrauen und Liebe, Hoffnung auf Genesung.

Die Rückfahrt war anders. Ich starrte wohl immer noch die ganze Zeit aus dem Fenster und bewunderte die Schönheit unserer Welt, aber irgendetwas war anders. Ich erlebte auf einmal das Gefühl von grosser Bewunderung. Bewunderung für die Bewohnerin, welche jede Woche diesen langen Weg auf sich nimmt. Bewunderung für die Bewohnerin, welche sich mit so schweren Themen auseinandersetzt. Bewunderung für die Bewohnerin, welche so viel Arbeit in sich selbst und in ihren Recovery Weg steckt. Bewunderung für die Bewohnerin, welche kämpft und kämpft und kämpft…

Seit dieser Erfahrung ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass sich unter all den Pendlern und Touristen an einem der schönsten Orte der Schweiz auch Menschen befinden, welche jeden Tag kämpfen müssen, jeden Tag ihren Recovery Weg neu bestreiten müssen und jeden Tag neue Hoffnung schöpfen müssen. Und genau diesen Menschen schenke ich so viel Bewunderung!

Andrea Leitman

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