Ich logge mich bei Facebook ein und schaue durch die rosarote Brille hindurch mitten in die perfekte Welt meiner perfekten Freunde. Ich schaue auf Instagram und darf perfekte Bilder von perfekten Ferien, perfekten Orten, perfektem Wetter von perfekten Menschen betrachten. Ich schaue meine unmittelbare Umgebung live an und sehe Unvollständiges, Halbfertiges und Chaotisches. Ein Plädoyer für das Unperfekte.
von Karin Morgenthaler
Mein Anspruch an die Blogs, die ich schreibe, sind wahrscheinlich die gleichen, wie die der Fotografen der oben genannten perfekten Bilder auf den Social-Media-Kanälen. Sie sollen möglichst perfekt sein, gut lesbar, fehlerfrei, süffig und flüssig zu lesen. Sie müssen Sinn machen und am Schluss sollte sich der Bogen, den ich spanne, schliessen. Und doch, geschätzte Leserinnen und Leser, ist es momentan folgendermassen: seit Tagen versuche ich einen Text, der meinen Ansprüchen genügt, zu schreiben. Bis jetzt vergeblich. Ich habe wahnsinnig viele verschiedene Einleitungssätze geschrieben, die ich dann – Sie ahnen es – gleich wieder gelöscht habe. Und gehe ich auf Blogseiten und lasse mich inspirieren, lande ich wieder in einer virtuell perfekten Welt. Scheinbar mühelos schreiben andere ihre Texte nieder. Witzig, interessant, anregend und nachhaltig – genau so, wie ein Blog meiner Meinung nach sein sollte.
Solche Texte oder Blogs zu lesen, erweckt den Eindruck, dass es einfach ist. Einfach schreiben, wonach einem der Sinn steht. Elegant Brücken schlagen, schöne Sätze kreieren und sich eloquent zeigen, so muss das gehen. Und es scheint auch eine wahnsinnige Freiheit zu sein, schreiben zu dürfen, was man will. Doch diese Freiheit, dieses Unbändige, Grenzenlose, kann auch einengend wirken – gedanklich gesprochen. Für jeden Blog trifft man Entscheidungen: man entscheidet sich für jene oder diese Wortwahl, entscheidet sich, dies oder jenes preiszugeben. Und doch stehe ich nun an einem Punkt, an dem ich sagen muss: es ist ziemlich schwierig. Schwierig, die treffenden Worte zu finden. Schwierig, eine Brücke zu schlagen und schwierig, das Wesentliche zu sehen. Und wenn ich das Wesentliche dann endlich sehe, dies auch noch verständlich zu beschreiben.
Doch ich möchte mich nicht beklagen, im Gegenteil. Ich schreibe ausserordentlich gerne und lasse mich gerne von meinen Gedanken treiben, wohin sie auch immer führen mögen. Ich schätze es, auch mal nicht zu wissen, wie ein Text endet. Oder keine Worte zu finden für das, was ich denke – ja, auch das gibt es. Ein Gefühl zu beschreiben ist mitunter das Herausforderndste. Ich mag es, mich auf ein spezifisches Thema konzentrieren zu können und zu dürfen – und mich darin festzubeissen. Ich mag den kleinen Freudensprung, den mein Herz macht, wenn meine Texte dann online gehen. Ich mag Kommentare zu meinen Beiträgen. Ich mag es, bei einer Tasse Kaffe darüber zu sprechen und ich mag es, mir im Alltag Gedanken zu machen, was ich als Nächstes schreiben soll. Und ich mag es, einen Text zu schreiben, der eben nicht mit einer rosaroten Brille angeschaut und gelesen wird. Nein, dieser Text ist nicht perfekt. Er wird auch nicht mehr perfekt. Und ja, ich stehe dazu. Ich plädiere für mehr Unperfektes. Für mehr Fehler. Für mehr Schräges und für mehr Alltag statt rosa Brille. Fehler machen heisst sich ausprobieren, Neues versuchen und entweder feststellen, dass es klappt oder dass es eben nicht funktioniert hat.
Fehler machen heisst vorwärts zu kommen, sich zu entwickeln und in Bewegung zu bleiben. Und dieses Credo gilt für mich sowohl privat als auch beruflich. Ich probiere gerne aus – beruflich gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Betula. Natürlich alles im Rahmen, aber warum nicht mal den Rahmen sprengen und Neues ausprobieren? Im geschützten Bereich darf man Versuche wagen und sich sicher sein, dass der Fall aufgefangen wird. Das ist doch auch mal was, oder?
„Den grössten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben einen Fehler zu machen.“ – Dietrich Bonhoeffer, Beteiligter des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus
7 Kommentare zu „Ein Plädoyer für das Unperfekte“
Ganz geniale Worte Danke!
Es ist auch so … und dafür brauchts keine spezielle Einleitung oder ein sich schliessendes Ende.
Es ist das Leben – so läufts in Natura 😉
Alles andere ist ja nicht wirklich leben sondern nur Facetten von Vorstellungen.
Ein Gefühl zu beschreiben ist miunter das Herausfordenste….
ja, das ist es, darum kann ich zu dem Blog nur sagen:
Einfach gut wahr und genial!!
Protektionismus mach einsam,…
Sorry, .. gemeint war Perfektionistisch,… (: