Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin, Mama, Bloggerin, …
Schon lange Zeit vor diesem Lockdown hatte ich in der ÖV ein Erlebnis, das ich gerne mit Ihnen teilen möchte.
Ich fahre also im Bus, und eine junge Frau mit Downsyndrom und ihre nicht mehr ganz so junge Mutter sitzen mir gegenüber. Ich drücke den Knopf für ein Haltesignal für die nächste Haltestelle. Die junge Frau fragt mich: „Warum drücken Sie? Wir müssen nicht hier aussteigen.“
Ich antworte: „Weil ich hier raus muss. Wo müssen denn Sie aussteigen?“
Noch bevor sie antworten kann, sagt mir ihre Mutter: „Ach, Sie müssen sie nicht siezen.“ Ich habe leider keine Zeit mehr, zu antworten, da ich eben hier aussteigen muss.
Diese Szene ist mir noch lange im Kopf herumgegeistert. Warum sollte ich die junge Dame nicht siezen? Ich nehme an, sie war über 18, sie hat mich gesiezt, da ist es Anstand, Achtung und Respekt zurückzusiezen.
Oder?
Meistens ja. Und mit Downsyndrom nicht?
Macht das Sinn?
Für mich nicht.
Ähnliche Dinge habe ich in meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin häufig erlebt. Beim Einkaufen im Schuhgeschäft sprechen die Menschen plötzlich mit mir über den Fuss meiner Bezugsperson. „Ich weiss nicht, es ist ja nicht mein Fuss, der im Schuh steckt, daher kann ich Ihnen leider keine Antwort auf die Frage geben, ob er drückt.“ Wenn ich das so niederschreibe, empfinde ich es noch viel absurder, als in jenem Moment.
Natürlich, das Verkaufspersonal meint das nicht böse oder „von oben herab“, das ist mir bewusst. Meist agiert man so aus Angst, man könnte das Gegenüber überfordern. Dann frage ich doch lieber gleich die Begleitperson – nicht, dass da noch eine peinliche Situation entsteht.
Was ist das Schlimmste, was in so einer Situation denn passieren kann?
Im Bus wäre es vermutlich, dass die junge Frau halt erst 15 ist und lachen muss oder sich komisch fühlt, weil ich sie sieze.
Im Schuhgeschäft wäre es, wenn die Frage nicht verstanden wird und ich unterstützen muss.
Und, wäre das schlimm?
„Es ist mehr wert, jederzeit die Achtung der Menschen zu haben, als gelegentlich ihre Bewunderung.“ – Jean-Jacques Rousseau
2 Kommentare zu „Sie oder Du oder doch Du“
Inklusion beginnt auch hier, beim alltäglichen Mit- und Nebeneinander. Diese Erlebnisse kenne ich auch und verstehe es nur zu gut, wenn man sich bei solch übergriffigem Verhalten, für die Übergangenen einsetzt!
Vielen Dank für den Kommentar Herr Jent. Innert kurzer Zeit habe ich nun Rückmeldungen erhalten mit ähnlichem Inhalt: solches Verhalten scheint an der Tagesordnung zu sein – leider! Inklusion hat noch einen langen Weg vor sich.