Sozialpädagoge in Ausbildung im Blickfeld einer Ausbildnerin 14 | 52

Woche 14: Lebensräume von Obdachlosen in Stuttgart; am Beispiel des Obdachlosenprojektes in Stuttgart spiegelt Ivo Reich Anforderungen und Lerninhalte;

„Auf Platte in Stuttgart“, eine Wahlpflichtwoche: Ivo Reich hat sich diesmal einer ganze besonderen Herausforderung gestellt, die sich bis zur „Grenzerfahrung“ entpuppt hat. Er hat im Rahmen einer alternativen Stadtführung Obdachlose besucht, und war, so quasi als Selbsterfahrung, 24 Stunden in Realerfahrung auf der Strasse unterwegs.

Er hat dabei ganz zentrale Beobachtungen und Erfahrungen gesammelt:

Erstens in Bezug auf sich selber: Indem er sich selber in eine ihm bisher unbekannte Lebenswelt begibt, jene der Obdachlosen in Stuttgart, erlebt er am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, den ganzen Tag hindurch Geld zu organisieren,  Pfand-Flaschen zu suchen, Abfall zu durchsuchen. Es spürt (nachvollziehbar!) Ekel, er muss sich überwinden, in Abfallkübel zu greifen, um das tägliche Überleben zu sichern. Eine solche Erfahrung kann, wie Ivo das betont, tiefgreifend wirken und das Verstehen von anderen Lebenswelten nachhaltig unterstützen. Das erinnert mich an jenes indianische Sprichwort, welches besagt, dass man einen anderen Menschen nur dann wirklich verstehen kann, wenn man zwanzig Meilen in dessen Mokassins gegangen sei. Allerdings ist es meiner Ansicht nach auch genauso wichtig, aus den Mokassins wieder richtig auszusteigen und sich bewusst zu werden, dass und wie sich die eigene Welt anfühlt.

Wie es Ivo beim Aussteigen aus diesen „Stuttgarter“ Mokassins gelungen ist, auch wieder Abstand zu gewinnen, wird sich zeigen. So differenziert, wie er sich bisher mit seinem beruflichen Alltag gezeigt hat, schafft er das mit Unterstützung  seines persönlichen und professionellen Umfeldes.

Zweitens gewinnt er praktisch-theoretische Erkenntnisse hinsichtlich Lebenswelt und Lebensbewältigung: Ivo stellt fest, dass es sich in dieser Erfahrung bei den obdachlosen Menschen um eine ganz andere Art von Lebenswelt und Lebensbewältigung handelt. Diese obdachlosen Menschen müssen Ordnung halten, um ihre Sachen beieinander zu halten, sie sind untereinander offen, mit offensichtlich wenig Schwellenängsten. Beeindruckt ist er davon, dass sich hier ein intensiver „Brennpunkt des Sozialen“ zeigt, beeindruckt ist er auch von der Offenheit der Menschen.

Drittens macht Ivo Beobachtungen in Bezug auf Fragen von Management, Organisation und Institution: Die bemerkenswerteste Aussage diesbezüglich ist sein basses Erstaunen darüber, dass sich unter den Hilfswerken ein Konkurrenzkampf abspielt! Dass sich die Organisationen offenbar um diese Klientel streiten, ohne dass dies aber hinsichtlich Lebensbewältigung sichtbare Wirkungen hinterlässt. Diesen Aspekt genauer zu erfassen, wäre absolut spannend, vor allem im Hinblick darauf, dass sich personenbezogene Hilfe immer in institutionalisierten Kontexten abspielt. Diese Kontexte steuern zu einem grossen Teil die Wirkung von Angebotsstrukturen und die Gestaltung von individueller Unterstützung bzw. Hilfsangeboten.

Zum Schluss stellt Ivo fest, dass er „schwer beeindruckt“ sei von dieser Erfahrung, dass er die Erlebnisse setzen lassen, verarbeiten müsse. Ich bin überzeugt, dass ihm diese Erfahrung nachhaltig dazu verhilft, Lebenswelten differenziert zu sehen und zu verstehen.

Rosmarie Arnold, Dozentin FHS

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