Maschinen sind leichter als Menschen

Autisten haben besondere Fähigkeiten. Eine Firma in Berlin beschäftigt nur Softwaretester mit Asperger-Syndrom

Marko Riegel ist ein Zahlenkünstler. Schon als Kind hat er eine besondere Beziehung zu Ziffern. Er spielt mit ihnen, schiebt ganze Reihen im Kopf hin und her, bis daraus dreidimensionale Tortendiagramme entstehen, groß und bunt. Für ihn ist das ganz leicht.

Schwierig dagegen sind Menschen. Die sind nicht so logisch wie Zahlen. Riegel hat Probleme, ihre Gesichter zu erkennen, ihre Gesten zu interpretieren, ihren Gefühlszustand zu entschlüsseln. Soziale Situationen bedeuten für ihn Stress. Er vermeidet Blickkontakt, Smalltalk empfindet er als Qual.

Marko Riegel ist Asperger-Autist. Für ihn bedeutet das, dass sein Berufsleben enden soll, bevor es begonnen hat. Im Januar 2011, kurz vor Riegels 34. Geburtstag, bescheinigt ihm das Jobcenter Berlin Lichtenberg, dass er arbeitsunfähig sei. Dass er keinen normalen Beruf ausüben könne. Nie wieder. In einem Alter, in dem für manche Akademiker die Karriere erst beginnt, soll für Riegel schon wieder Schluss sein. Riegel hat Anspruch auf Erwerbsminderungsrente und Sozialhilfe, insgesamt 440 Euro im Monat.

Doch Riegel will sich nicht damit abfinden, ein Sozialfall zu sein. Er kämpft. Heute, eineinhalb Jahre nach dem Rentenbescheid, hat er einen richtigen Job. 30-Stunden-Woche. 1.800 Euro Einstiegsgehalt. Riegel hat eine Schulung besucht und eine Prüfung abgelegt. Er testet jetzt Software. »Endlich kann ich meine Fähigkeiten sinnvoll einsetzen.«

Marko Riegel, 35, ist eine statistische Ausnahme: Etwa sechs von 1.000 Menschen sind von einer Störung auf dem autistischen Spektrum betroffen, meistens sind es Männer. Aber nur etwa fünf Prozent der Autisten haben einen regulären Job. Der Rest scheitert in der Arbeitswelt, wo soziale Fähigkeiten mehr denn je gefragt sind: Teamgeist. Teamleistung. Teamerfolg. Einzelgänger passen da nicht rein.

  • Diagnose
  • Auslöser und Heilung
  • Leben mit der Krankheit

Diagnose

Der Begriff Autismus steht für ein breites Spektrum leichter bis schwerer Entwicklungsstörungen. Meist versteht man darunter den frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom), der bereits in den ersten drei Lebensjahren auftritt. Eines von 100 Kindern ist betroffen, von den Jungen sogar einer von 70.

Die Diagnose erfolgt anhand typischer Kombinationen von Merkmalen wie eine verspätete oder nicht vorhandene Sprachentwicklung und motorische Auffälligkeiten. Ebenso häufig sind stereotype Verhaltensweisen, etwa ständiges Wedeln mit der Hand, sowie soziale Schwächen wie das Vermeiden von Augenkontakt. Mildere Formen sind der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom, auf die weniger Merkmale zutreffen, so kann die Sprachentwicklung normal sein.

Auslöser und Heilung

Auslöser sind Veränderungen des Gehirns, die zu Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen führen. Als Ursachen gelten erbliche Faktoren und biologische Einflüsse, etwa Infektionskrankheiten.

Der Autismus gilt zwar als unheilbar, Studien belegen aber, dass eine frühe Diagnose und etwa eine gezielte Musik- oder Verhaltenstherapie die Symptome mildern können und so die Lebensqualität wesentlich erhöhen können. In einem Vergleich autistischer und nicht autistischer Probanden konnten Forscher des McLean Hospital in Massachusetts mithilfe eines Hirnscanners eine autistische Störung mit 94-prozentiger Sicherheit erkennen – bestimmte Hirnareale waren verändert. Das nährt Hoffnungen auf frühzeitigere und zuverlässigere Diagnosen.

Leben mit der Krankheit

Trotz ihrer Einschränkungen setzen sich Autisten selbst dafür ein, nicht als krank eingestuft zu werden. Ihr Argument: Sie nehmen die Welt nur auf veränderte Weise wahr. Und führen oft ein ebenso zufriedenes Leben wie Nicht-Autisten.

Für die Betroffenen ist das tragisch und für die Wirtschaft ein teurer Verlust. Eine Studie der London School of Economics und des Londoner Kings College von 2009 schätzt die Kosten für die Pflege und Unterstützung von Autisten sowie den wirtschaftlichen Schaden daraus, dass sie dem Arbeitsmarkt verloren gehen, allein in Großbritannien auf 35 Milliarden Euro – im Jahr.

Eine ähnliche Untersuchung für Deutschland gibt es nicht, aber Schätzungen zufolge leben hierzulande rund 500.000 Autisten, etwa die Hälfte davon leidet wie Marko Riegel am Asperger-Syndrom. Viele Autisten sind tatsächlich nicht in der Lage zu arbeiten, aber gerade diejenigen mit Asperger-Syndrom unterscheiden sich in Intelligenz und Sprachvermögen nicht von anderen Menschen. Das sind 25.0000 Spezialisten allein in Deutschland – ein gewaltiges Potenzial. Die Wirtschaft beginnt gerade erst, es zu heben. Lange haben die Unternehmen Autisten ignoriert, allmählich erkennen sie deren Fähigkeiten.

Dass das so ist, hat mit einem Mann zu tun, der vor einigen Jahren mit seinem elfjährigen Sohn ein Musikvideo des US-Sängers Usher auf MTV sieht. Als der Sohn aufsteht und die schwierigen Tanzschritte auf Anhieb so perfekt imitiert, ahnt der Vater: Das ist nicht normal. Das Anderssein ist Asperger. Es stellt sich heraus, dass der Sohn das perfekte Gehör hat und einen IQ von 135.

Dirk Müller-Remus, der Vater, beginnt über Asperger zu recherchieren. Er liest Begriffe wie »angeboren« und »unheilbar«. Liest weiter und erfährt von »Sonderinteressen« und »speziellen Fähigkeiten«. Die Begabung seines Sohnes ist die Musik. Viele Autisten sind aber auch sehr geschickt im Umgang mit Zahlen, Daten, Formeln. Ihr Blick für Details und ihre Vorliebe für Regeln sind ideale Voraussetzungen für die Arbeit mit dem Computer.

Müller-Remus, 54, kündigt seinen Vorstandsjob bei einem Medizintechnik-Unternehmen und gründet Ende 2011 die Firma Auticon in Berlin. Auticon ist das erste Unternehmen in Deutschland, das ausschließlich Autisten als Softwaretester beschäftigt. Für den Anfang sind es sechs, eine Frau und fünf Männer. Marko Riegel ist einer davon. Auticon vermittelt sie an Firmen, für die sie Programmcodes überprüfen, Datenbanken verwalten, Kundendateien pflegen. Den ersten großen Kunden hat Auticon gerade gewonnen: den Mobilfunkanbieter Vodafone.

Jede Geste, jede Mimik ist für Riegel ein Code, den er mühsam knacken muss

Warum gerade Software? Weshalb die Computer? Marko Riegel sitzt im Büro von Auticon in Berlin-Mitte, den Rücken hat er durchgestreckt, das eine Bein so über das andere gelegt, dass Wade und Oberschenkel einen Neunzig-Grad-Winkel bilden. Es sieht unbequem aus, doch Riegel wird volle zwei Stunden in dieser Position verharren. Nur einmal steht er auf, um das Fenster zu schließen. Draußen spielen Kinder, das erträgt er nicht. Es gibt Sinneseindrücke, die Riegel aus der Fassung bringen: das Klicken einer Computermaus, der Geruch von frischem Teer oder nassem Zeitungspapier, das Kreischen von Kindern. Sie bereiten Riegel fast körperliche Schmerzen, er kann sich dann auf nichts anderes mehr konzentrieren.

Zum Artikel ZeitOnline

Zum Artikel SAP und Specialisterne fördern Menschen mit Autismus (MyHandicap)

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