Auf der Suche nach Antworten … Folge 4

In loser Folge machen wir uns auf Spurensuche nach Antworten rund um Herausforderungen aus dem Feld der Sozialen Arbeit.

Diesmal Stefan Ribler im Interview mit Stanko Gobac, ehemaliger Kantonsschullehrer und Schulleiter  

Du bist der neue Leiter vom Ekkharthof; dies ab Mai 2021. Was hat dich als pädagogische Person bewogen, in eine solche Führungsaufgabe einzusteigen?

Um die Frage zu beantworten, muss ich einen Schritt zurück machen. Ich habe mich nie primär als Lehrer verstanden, sondern immer als «Sprachler». Das Faszinierende an der Sprache brachte und bringt für mich auch die Freude an Geschichten mit sich: Sie zeigen uns Menschen im gegenseitigen Austausch und sind damit eine Grundform des Sozialen. Meine Ausbildung als Lehrer war somit eher zufällig, ich hätte auch beispielsweise Übersetzer werden können, denn es ging mir immer um die Sprache in ihrer lebendigen Anwendung. Es ist kein Zufall, dass ich nach Jahren der Berufspraxis am Institut für Angewandte Medienwissenschaften gelandet bin. Als Lehrer wollte ich die grosse Welt der Literatur übermitteln, heute interessiert mich mehr denn je, was dahintersteckt: der Mensch selbst.

Der Einstieg im Ekkharthof ist für mich damit ein sehr natürlicher und organischer Schritt, dem ein Prozess vorangeht, welcher schon vor Jahren begann. Ich wollte mich weiterbilden, mir war aber klar, dass ich keine Schulleiterweiterbildung absolvieren wollte, mit dem Ziel Rektor zu werden. So entschloss ich mich für einen Kommunikationsmaster an der ZHAW (MAS in Communication Management and Leadership), der mir eine breite Auseinandersetzung mit Führungsthemen ermöglichte.

Meine Lehrerausbildung war nie das Ziel, sondern die Mythologie, die Sprache, die Geschichten und somit die Menschen. Die Entscheidung für den Ekkharthof ist folglich extrem nahe an dieser Grundidee.

Als Gesamtleiter hast du im Ekkharthof eine operative, strategische Leitungsaufgabe. Du bist dadurch weit entfernt von den Mitarbeitenden und den Menschen, die im Ekkharthof leben. Ist das nicht ein Widerspruch zu deiner Aussage, nahe bei den Menschen, stark in der Kommunikation und im Austausch zu sein?

Beim «Was» gebe ich dir Recht, dass ich durch diese Position in einer gewissen Distanz zu den Menschen im Ekkharthof bin. Ich setze aber auf das «Wie». Im «Wie» habe ich Spielraum und Möglichkeiten, meine Zugänglichkeit zu signalisieren: Sei dies in der Begegnung auf dem Gelände oder in der Kommunikation mit den Menschen. Wie ich das gestalte, liegt in meiner Hand.

Du kommst aus einem klassischen Schul- und Bildungsbereich und wechselst in einen klassischen stationären Bereich der Behindertenarbeit. Wo gibt es für dich Bereiche, in denen du deine Wissenskompetenz erweitern kannst und möchtest?

Mein Grundanspruch an mich ist, und war schon immer, eine gute Offenheit zu besitzen. Ich bin der Überzeugung, dass man von jedermann und jederfrau etwas dazulernen kann. Das macht dich als Person nicht besser als andere, aber es macht dich als Person besser im Vergleich zu der Person, die du gestern noch warst. In meinen Ansprachen an der Maturafeier habe ich die Absolventinnen und Absolventen jeweils mit den Worten verabschiedet: “Halten Sie sich stets für etwas Besonderes, aber nie für etwas Besseres.”

In diesem Zusammenhang gibt es für mich 3 Themenkreise, dich ich vor mir habe:

  • Kreis Führung/Leitung

Hier besitze ich schon eine gewisse Erfahrung, wenn auch nicht in diesem Fachbereich.

  •  Kreis Heilpädagogik

Beim ersten Wort, dem «Heil», gibt es bei mir noch Lernpotenzial, weshalb ich mich momentan sehr damit beschäftige, auseinandersetze und weiterbilde. Hingegen bringe ich im Bereich “Pädagogik” über 16 Jahre Erfahrung mit.

Der 3. entscheidende Kreis für mich ist die Anthroposophie. Ich bin kein, oder vielleicht noch kein, Anthroposoph. Wenn ich mich aber mit dem Wesen der Anthroposophie auseinandersetze, erkenne ich eine grosse Nähe und Übereinstimmung in den Werten. Ein Beispiel: Die Anthroposophie erfasst den Menschen in seiner Ganzheit und erkennt sowohl seine Stärken als auch das, was noch zu stärken ist. Das ist doch beeindruckend und fortschrittlich!

Wenn du uns erklären müsstest, warum dich der Vereinsvorstand vom Ekkharthof gewählt hat, obwohl du kein Sozialpädagoge bist und auch nicht aus dem Mitarbeiterumfeld des Ekkharthofs kommst, wie würdest du das?

Gute Frage, die ich mir selber auch stelle. Ich habe versucht, die Antwort darauf dem Vorstandspräsidenten zu entlocken. Meine persönliche Interpretation ist, dass meine Verbindung aus Kommunikation und Wille zur Vernetzung gut zusammenpassen mit der Öffnungsidee des Ekkharthofs.

Es gibt ja diese Mechanik vom Durchlauferhitzer. Was machst du, damit dir das nicht passiert, als Nachfolger von Jürg Bregenzer, der über lange Jahre erfolgreich war und Spuren hinterlassen wird?

Aus meiner eigenen Warte sind das wesentlichste Gedanken. Jürg hinterlässt nach 40 Jahren eine gewaltige Lücke, der ich nur mit grosser Demut gleichkommen kann. Wenn ich etwas gut kann, dann ist es lesen und wenn ich “lese”, wie der Ekkharthof heute dasteht in seinem Gesamtkontext, dann übernehme ich einen gesunden Betrieb mit einer guten Betriebskultur. Und das zeigt mir, dass ich nicht primär die Aufgabe habe, irgendwelche Veränderungen schnellstmöglich anzustreben. Um es mit einem Bild des Denkers Heraklit auszudrücken: Alles fliesst, aber man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Man steigt in den Fluss und wird Teil von diesem Fluss, aber auch wird dieser Fluss Teil von einem selbst. Meine Herausforderung wird sein, schnell zu verstehen, was mich umgibt, und dort meine eigene Rolle zu finden. Die Veränderungen können nur gemeinsame sein.

Wir wünschen dir, dass du im Ekkharthof wirklich nachhaltig und lange wirken kannst.

Und nun kommen wir zu dem Bereich mit knappen Fragen und knappen Antworten.

Welche ist für dich die grösste Herausforderung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung?

Ich würde sagen, dass es ja schon in der Begegnung mit Menschen ohne Beeinträchtigung zum Teil schwierig ist, einander gerecht zu werden und ganz zu verstehen. Und ich glaube, dass in der Zusammenarbeit und im Zusammensein dieser Anspruch noch etwas höher ist, nämlich nicht in die Falle zu tappen, das Gegenüber zu interpretieren oder gar zu bevormunden.

In der Arbeit mit Menschen mit Behinderung sind die 2 grossen Dimensionen: Selbstbestimmung und Inklusion. Was bedeutet für dich die Dimension von Selbstbestimmtheit für diese Menschen, die in einer sozialpädagogischen Institution leben?

Wenn die Selbstbestimmtheit von einem Tag auf den anderen eingeführt wird, denke ich, sind die Folgen bei den meisten Menschen Überforderung.

Die «Erziehung zur Selbstständigkeit» ist nicht nur in der Heilpädagogik, sondern in der Pädagogik ganz allgemein ein Widerspruch:

Will ich möglichst richtig entscheiden, muss ich zuerst verstehen, was die einzelnen Optionen und Angebote für mich bedeuten würden. Es gibt hier eine Art Schwellenwert, eine Wegstrecke, auf der es gute Weggefährten braucht, die einem helfen, seinen eigenen Weg zu finden. Und diese Wegstrecke, diese “letzte Meile”, das ist die Hauptaufgabe.

Zur aktuellen Lage, möchte ich noch gerne wissen, wie gehst du mit Corona um?

Es gibt einen Rahmen aus vorgegebenen sinnvollen Massnahmen, die versuchen, die Pandemie einzudämmen. Es gibt verschiedene Ebenen: Politiker, Expertinnen und Experten, die aber aus meiner Sicht keine ExpertInnen sein können. «Expertus» heisst “erfahren bzw. kriegserfahren” und diese Erfahrung hat bislang noch niemand gemacht. Natürlich denke ich an InfektiologInnen und VirologInnen, welche uns den Blick öffnen können, an PolitikerInnen, die Entscheidungen treffen müssen und dann denke ich an uns. Was macht das Ganze mit uns? Weniger, was es mit mir persönlich macht, aber was macht es mit uns als Menschen, als Gesellschaft? Okay, wir können nicht ins Kino, ins Restaurant oder in den Baumarkt. Das ist ja erstmal nicht so schlimm. Im ersten Lockdown war es Frühling, man ging mehr in die Natur. Nehmen wir jedoch die jetzige Situation, bekomme ich schon etwas Bauchweh, wenn ich die andere Betrachtung dazu nehme, dass es eine weltweit grassierende totbringende Pandemie ist. Persönlich finde ich den Preis klein, den ich dafür bezahle, sei es die Maske, die Videokonferenz, etc.

Als Abschluss dieses Interviews möchte ich gerne ein paar persönliche Fragen stellen. Ich weiss du bist ein Kultur-liebender, ein sehr belesener, sehr vielseitiger und neugieriger Mensch.

Welche Platte, welches Album muss man deiner Ansicht nach unbedingt gehört haben?

Für mich ist es sehr schwierig, mich auf eine Platte zu beschränken. Über Weihnachten habe ich wieder einmal R.E.M. und die Counting Crows rausgeholt… aber, wenn ich mich für ein Album entscheiden muss, dann würde ich mich für U2 und das Album “Zooropa” von 1993 entscheiden.

Sag in einem Satz, warum dieses Album?

Das Album ist für mich wie ein Geist. Ich kenne die Songs seit bald 30 Jahren und doch, jedes Mal wenn ich sie wieder höre, ist es wie eine Neuentdeckung. Eigentlich das, was man sich bei einem guten Buch ja immer wünschen würde.

Welcher Film hat dich bewegt und würdest du weiterempfehlen?

Mir gefällt das französische Kino, der Film Noir oder Truffaut-Filme der Nouvelle Vague zum Beispiel. Wenn ich mich jedoch für einen Film entscheiden muss, dann für «Bram Stoker’s Dracula» von Francis Ford Coppola von 1992 mit Keanu Reeves, Winona Ryder, Gary Oldman, Anthony Hopkins etc. Dieser Film ist eine Literaturverfilmung und auch eines meiner Lieblingsbücher. Mich fasziniert die Tatsache, dass diese Vampir-Mythen in allen Religionen, Kulturen und Weltteilen unabhängig voneinander auftreten. Der Fremde, der nachts zu einem kommt, der einen Reiz ausübt und den man gleichzeitig fürchtet, hat viel mit uns als Menschen zu tun. Francis Ford Coppola hat es geschafft, dieses Buch komprimiert in einem Film zu vermitteln.

Nun sind wir beim Buch angelangt. Welches Buch würdest du uns weiterempfehlen? Ein Buch, das du immer wieder neu und aktualisiert lesen kannst?

Dann sage ich mal vorweg: «Sorry, Markus Werner, sorry, Franz Hohler, sorry, Goethe usw., dass ich euch jetzt nicht nenne». Ich entscheide mich für ein Buch, das eigentlich kein Buch ist und das sind die griechischen Sagen. Je nach dem, in welcher Situation man steckt, kann die richtige Sage im richtigen Moment einen unheimlich beflügeln oder auch runterziehen. Diese Erfahrung mache ich nur bei den Mythen.

Abschliessen möchte ich mit einem Wunsch, den du hast oder mit einer Vision.

Etwas, was uns als Spezies in den letzten 20 Jahren gelungen ist, heisst Wikipedia. Wenn man sich überlegt, was das bedeutet: Wissen wollen, anreichern, archivieren, das Wissen lebendig erhalten, ohne dass es destruktiv wird oder die Grundidee in ihr Gegenteil verkehrt wird. Ich wünsche mir, dass diese Entwicklung auf diese Art weitergeführt wird und auch in anderen Bereichen Schule macht.

Danke vielmals für das Interview! Wir von Betula wünschen dir, dass du sowohl ein neues Musikalbum findest, dass dich noch mehr begeistert als Zooropa, einen Film siehst, der Bram Stocker’s Dracula übertrifft und du ein neues Buch findest, dass dich noch mehr inspiriert als die griechischen Sagen. 

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