Dienstag, 21. April 2037

Dienstag, 21. April 2037. Per Augenerkennung trete ich in das Wohnheim ein. Mein Arbeitsplatz wartet auf mich: 2 Computer, 1 Tablet mit 3D-Funktion und mein Headset liegen bereit. Per App habe ich während meinem Arbeitsweg die Einschalt-Funktion dieser Gadgets getätigt. So spare ich Zeit und kann gleich beginnen.

Per Datei erhalte ich die Gesundheitsdaten der Bewohnerinnen und Bewohner auf den Computer. Blutdruck, Puls, ob sie die Medikamente eingenommen haben oder nicht, ich kann die Stimmung anhand von Hirnströmungen ablesen – hierfür wurden eigens Geräte entwickelt, welche ununterbrochen messen und per Chip lässt sich erkennen, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner befinden. Alles „gut“, nichts aussergewöhnliches. So kann ich mich den Tätigkeiten widmen, welche 95% von meinem Arbeitstag ausmachen:

Ich schreibe, verwalte, plane und fülle Listen aus. Ich füttere Formulare mit Wörtern, unterschreibe hier und dort und bewirtschafte die Akten. Ab und zu tätige ich ein Telefonat – hauptsächlich um nachzufragen, in welcher Datei ein spezielles Formular abgelegt ist, welches ich benötige.

Die Kaffeepause ist ein Lichtblick in meinem Vormittag – hier habe ich 10 Minuten Zeit, mich richtig und real zu unterhalten – so wie ich es von früher kenne (und schätze): den Eins-zu-eins-Kontakt. Meine Arbeitskollegin weiss, dass ich immer noch keinen Kaffee trinke und bietet mir einen Tee an. „Weisst du noch, damals…“, beginne ich nostalgisch. Sie nickt – wohlwissend, was ich meine. „Ja, kannst du dir das noch vorstellen, wie das war? Damals, als wir tatsächlich noch Zeit hatten, mit Klientinnen und Klienten zu REDEN, sie zu fordern und fördern, Gespräche zu führen und sie – wenigstens ein Stück in ihrer Lebensgeschichte – zu begleiten?“ Ich weiss, was sie meint. Ich weiss, dass ich noch – weit hinten in meinem Erleben – spüren kann, wie es damals war. Doch das ist zu lange her. Was ist passiert, in diesen 20 Jahren, warum ist es so weit gekommen? Seit wann habe ich keine Zeit mehr dies zu tun, was ich so gerne mache und was auch der Grund für meine Ausbildung war? Wann ist es geschehen, dass wir Akten wälzen, schreiben, notieren, Formular-abhängig sind? Und – warum hat sich diesem Trend niemand entgegengesetzt?

Unvorstellbar und Zukunftsmusik, was Sie gerade gelesen haben? Natürlich – übertrieben diese Darstellung der Zukunft als Sozialarbeiterin. Doch restlos übertrieben? Natürlich ist mir bewusst, dass Dokumentationen, Formulare, Berichte und Tabellen wichtig sind. Aber manchmal, ja manchmal fühle ich mich wie an diesem kommenden Dienstag im Jahre 2037. Und dies im Jahre 2017.

„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“   Albert Einstein, theoretischer Physiker

Karin Morgenthaler

2 Kommentare zu „Dienstag, 21. April 2037“

  1. Lasst uns Zukunft denken in der wir gehört werden weil wir trotzdem sprechen und damit Netze spinnen.
    Danke, für den (wieder) schönen Blog

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