…irgendwie wurde doch noch eine tiefe Liebe daraus.

Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin, Mama, Bloggerin, …

Kennen Sie das? Sie nehmen jedes Mal, wenn Sie zur Arbeit fahren (oder sonst wohin, einfach etwas, das regelmässig stattfindet), möglichst den gleichen Platz. Sei es der Einersitz gleich nach der Zugtüre rechts. Oder den Gangplatz bei diesem Viererabteil, bei dem auf der Ablage mal ein Skateboardkleber klebte – und jetzt nur noch weisse Reste davon übrig sind. Oder entgegen der Fahrtrichtung beim Zweierplatz am Fenster – weil das Fenster dort so neu ist und noch keine Kratzer hat. Das geht übrigens auch bei unregelmässigen Arbeitszeiten – ich hab es jahrelang ausprobiert – es klappt!

Oder wenn Sie regelmässig um eine ähnliche Zeit in einem Grossverteiler ihrer Stadt oder ihres Dorfes einkaufen. Das passiert mir häufig – mit Baby hat man  oft so einen klaren, manche mögen sagen sturen Tagesablauf, der ganz angenehm ist – für Beide.

So stehe ich oft zu einer bestimmten Zeit in einem Grossverteiler. Und ich merke: ich bin nicht die Einzige mit so einem – man mag geneigt sein zu sagen – bünzligen Alltag. Da ist die ältere Dame, meist in farbigen Strumpfhosen, dem streng gebundenen Dutt, der Hornbrille und dem Einkaufswagen mit ihrer Tasche drin, meist stehend bei den Früchten. Oder der junge Herr im Anzug bei den Gipfeli und als zweite Station der Theke mit den Eiskaffees, leicht gestresst und immer latent müde aussehend. Oder das alte Ehepaar, das sich nicht entscheiden kann, ob nun heute ein Brot mit oder ohne Kernen auf den Frühstückstisch kommt.

Und während ich so durch die Regale streife, stelle ich mir immer vor, was hinter den Leuten, die ich so oft sehe, steckt. So ist für mich die ältere Dame mit dem Dutt eine pensionierte Bücherladenbesitzerin, mit so viel Wissen über die Bücher dieser Welt. Sicherlich eine eloquente Gesprächs- und Brieffreundschaftspartnerin. Und natürlich Mitglied der Bibliothek – denn Lesen, ja Lesen ist eine Berufung, kein Beruf – würde sie mir antworten.

Der junge Herr hat für mich vor etwa zwei bis drei Jahren die Banklehre abgeschlossen und konnte danach seine Stelle behalten. Nun steht bald eine Beförderungswelle bevor, und er hofft, dass er einer von denen ist, die eine Stufe hochklettern können. Nicht immer einfach, sich durchzusetzen. Manch einer sagt ihm nach, er sei ja noch grün hinter den Ohren. Denen will er’s aber zeigen!

Und das alte Ehepaar, wie viele Jahre es wohl schon zusammen sein mag? 50? 60? Auf jeden Fall so viel, dass ich staunen muss. Nicht immer war es leicht, die Ehe aufrecht zu erhalten. Vielleicht war es auch nicht unbedingt die Heirat aus der grossen Liebe heraus. Nein, damals musste man noch pragmatisch denken. Und nun, nun könnten sie trotzdem nicht mehr ohne einander. Zu sehr ist man eingespielt und aufeinander angewiesen. Und irgendwie, ja irgendwie wurde doch noch eine tiefe Liebe daraus.

Natürlich könnte auch alles ganz anders sein. Doch, traut man sich je zu fragen? Leider tun das die wenigsten – ich schliesse mich da mit ein. Was jedoch wir alle gemeinsam haben: hinter die Fassade sieht man kaum – und wir alle tragen eine Geschichte mit uns umher. So sind einige Erkrankungen gar nicht sichtbar, beispielsweise psychische Probleme. Vielleicht hat die Dame mit dem Dutt Depressionen. Der junge Herr leidet an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung und der alte Mann kümmert sich um seine manisch-depressiv erkrankte Frau. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Macht es einen Unterschied für mich, wie ich die Leute sehe? Nein. Und ich hoffe, dies geht nicht nur mir so. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen wertfreien, phantasievollen Tag!

«Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.» – Albert Einstein, theoretischer Physiker

2 Kommentare zu „…irgendwie wurde doch noch eine tiefe Liebe daraus.“

  1. Wir haben gerade nichts Besseres zu tun.

    Was du beschreibst liebe Karin kenne ich nur allzu gut. Der Alltagstrott der oft nicht viel Zeit und Raum für Phantasie und Spontanität zulässt.
    Momentan bin ich in der dritten Woche auf Sansibar. Im Vorfeld haben wir, meine Frau und ich, uns viele Gedanken gemacht wie wir den eimonatigen Urlaub füllen sollen. Wir haben uns entschieden, dass wir ein Haus am Meer mieten und den Rest unserer Phantasie überlassen. Ich kann dir berichten, so entstehen Geschichten.
    Ich habe soeben von Samson, einem Massai der als Strandverkäufer arbeitet erfahren was eine Kuh in Tansania kostet. Er braucht noch zwei wenn er wieder aufs tansanische Festland zurück geht, dass sein Vater fast von Löwen getötet wurde und das er drei Kinder hat. Gestern sind wir mit Käpten Chicken, einem stolzen Fisherman und Dhau Kapitän, rausgefahren zum Tauchen. Er hat uns über die Tadition seiner Zunft berichtet. Der Postman der auch Gemüse verkauft bringt uns täglich neue Worte auf Suaheli bei und amüsiert sich dabei köstlich über unsere Aussprache.

    Wir haben momentan wirklich nichts Besseres zu tun.

    Maya und Klaus

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