Nicht „nur“ Profi zu sein

Perfektionismus und Fehler, Nichtwissen und alles Wissen. Einteilen in richtig und falsch, Können und Unvermögen. Wie viel muss ich können und wie viel darf ich unwissend sein? Ein Erfahrungsbericht aus einem Wohnheim, in dem ich nie und nimmer alles weiss, geschweige denn alles kann.

von Karin Morgenthaler

Mir scheint, mein letzter Blogbeitrag, die Hommage und Liebeserklärung ans Fehlermachen, hat eine grosse Resonanz erhalten. Das freut mich natürlich sehr! Und da es eines von meinen Lieblingsthemen ist, nehme ich mir die Freiheit heraus, mich nochmals darüber auszulassen.

Wie Sie sicher bereits nun alle wissen, arbeite ich seit geraumer Zeit im Betula Wohnheim. In meinem Palmarès steht, dass ich einen Abschluss als Sozialarbeiterin habe und bereits eine grössere Weiterbildung mein Eigen nennen darf. Ich bin also Profi, wenn es um soziale Themen geht, sozialpolitisch bin ich immer auf dem neuesten Stand, ich habe für alles eine Lösung und weiss immer, was eine gute Frage wäre.

Wache ich dann auf, merke ich, dass dem überhaupt nicht so ist. Ich weiss so viele Dinge nicht, dass es völlig den Rahmen sprengen würde, diese hier alle aufzuzählen. Und ich bin so froh, dass ich vieles nicht weiss! Ehrlich, sogar richtiggehend dankbar. Warum?

So bleibt die Welt für mich spannend. Ich darf täglich Neues lernen, mir neues Wissen aneignen und mich permanent – wenn auch im kleinen Rahmen – weiterbilden. Das Detektiv-sein und so Dinge herauszufinden, die ich im Alltag gerade brauche, das hat für mich einen ungeheuren Reiz. Noch spannender wird es, gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern Neues zu lernen. Was versichert eigentlich eine Haftpflicht? Oder welche Schritte müssen gemacht werden, um eine IV-gestützte Ausbildung zu absolvieren? Was und weshalb zahlt eigentlich ein Sozialamt? Finden wir es doch heraus! Und zwar ohne, dass ich alles vorkaue, weil ich mir vielleicht auch nicht sicher bin. Und – wie mir als Rückmeldung gesagt wurde – Fehler zu machen, macht das Ganze menschlich. „Es menschelet“, und dazu gehört das Unwissen.

Und manchmal bin ich mit meinen wahnsinnig guten sozialarbeiterischen Interventionen auf dem Holzweg. Und wenn ich das merke, dann kann es sein, dass ich diesen Weg nicht gleich verlasse. Weil Holzwege sind meist im Wald und mir gefällt der Wald. Und der Wald mit all den Bäumen lädt einem vielleicht ein, eine andere Perspektive einzunehmen, den Baum mal hochzuklettern und die Ebene zu wechseln. Oder ich möchte einfach noch eine Weile die frische Luft des Waldes in meine Lungen und meinen Kopf strömen lassen – nur schon deswegen lohnt es sich, auch mal auf dem falschen Weg zu bleiben. Auch ein vermeintlich falscher Weg führt Schritt für Schritt vorwärts.

Natürlich, ein gewisses Wissen gibt Sicherheit, macht einem handlungsfähiger – beispielsweise in Krisensituationen. Und dieses Wissen will auch eingesetzt werden – keine Frage. Doch auf der Alltagsebene tut es auch gut, mal über etwas nicht Bescheid zu wissen. Mal nicht „nur“ Profi zu sein, sondern Partnerin im Entdecken von Auflagen, im Suchen und Finden von Informationen, im Lernen.

Darum plädiere ich – vor allem auf der professionellen Ebene – für mehr Mut zur Lücke. Mehr Mut zum Unwissen und mehr Mut, Fehler zu machen! Und die Fähigkeit, das Ganze zu reflektieren – ganz so, wie es sich für unseren Berufsstand gehört.

„Man kann auch den Holzweg zu seiner Spezialstrecke machen.“ – Harald Kriegler, Schriftsetzer und Autor

1 Kommentar zu „Nicht „nur“ Profi zu sein“

  1. Es ist niemals so einfach, seinem Gegenüber das “Expertentum in eigener Sache” zuzugestehen, wie wenn man selber unwissend ist. Meine Unwissenheit in einer Sache, die mich bis anhin nicht betroffen hat, macht mein Gegenüber zum wahren Experten – und mich zur noch interessierten Zuhörerin.
    Ich mag es, Auszubildende meiner Klientel zu sein. Es schafft Vertrauen, beseitigt ein Machtgefälle das keines sein soll und verbindet. So darf jeder Profi auf dem eigenen Gebiet sein.

    Vielen Dank für diese inspirierenden, lückenlosen und wissenden Worte 🙂

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