«Ein guter Orgasmus ist besser als Ergotherapie»

Rachel Wotton ist Sexualbegleiterin, sie hat sich auf Behinderte spezialisiert und kämpft für deren Recht auf Körperlichkeit. Ein Film dokumentiert beeindruckend, wie die Australierin mit ihren Kunden umgeht – und auf welche Vorurteile und Widerstände sie stösst.

Von Hendrik Steinkuhl

Dass die Sexarbeiterin gegen Ende der Dokumentation einen Universitätsabschluss macht, ist ein fast kitschiger Spielfilmmoment. Begleitet von Orgelmusik geht sie im Talar zur Zeugnisübergabe. Und dann, Schnitt, sitzt sie in ihrer Küche und sagt lachend: “Es gibt bestimmt Kunden, die mich in meinem Talar sehen möchten. Dafür müsste ich allerdings einen Aufpreis verlangen.”

Die Dokumentation “Rachels Weg. Aus dem Leben einer Sexarbeiterin” ist prallvoll mit solch wundervollen Szenen. In den gerade einmal 70 Minuten stecken genug Witz, Wärme und Drama für mindestens drei Filme.

Rachel und ihre Kollegen nennen sich “Sexworker”

Die Protagonistin ist die Australierin Rachel Wotton. Sie verdient ihr Geld mit Sex, sie hat sexuelle Gesundheit studiert und sie fordert von der Gesellschaft endlich einen entspannten Umgang mit: Sex. Den Begriff Prostituierte lehnt sie ab, er klingt in ihren Ohren erniedrigend. Sie und viele ihrer Kollegen nennen sich “Sexworker”.

Wenn Wotton nicht im Dienst ist, kämpft sie. Gegen das Verbot von Prostitution, gegen die Diskriminierung ihres Berufsstands und gegen die Ansicht, Menschen mit Handicap hätten keine körperlichen Begierden. Oder sie hätten keine zu haben. “Jeder hat ein Recht auf Sex”, sagt Wotton. “Auch Behinderte.”

Mit ihrer Arbeit leistet Rachel Wotton Großes. Der Film zeigt das wieder und wieder. Da ist etwa ihr Kunde John Blades, der an einer weit fortgeschrittenen Multiplen Sklerose leidet. Seinen Rollstuhl lenkt er mit dem Kinn, Buchseiten blättert er mit einem Stab um, den man ihm an der Stirn befestigt hat. Manchmal, sagt John, sitze er auf der Veranda und blicke ins Leere. “Und meine Gedanken drehen sich darum, wie alles zu beenden wäre. Ich muss es irgendwie schaffen, da rauszukommen.”

Wegen seiner Krankheit spricht John sehr langsam, die Worte ziehen sich. Doch jeder seiner Sätze trifft. Ein Sozialarbeiter habe ihn einmal gefragt, ob eine Sexualbegleiterin nicht etwas für ihn wäre. “Ich habe gesagt: ‘Ist der Papst katholisch?'”

Filmfestival der Aktion Mensch zeigt “Rachels Weg”

Das Lächeln, das John jetzt zeigt, sieht der Zuschauer einige Minuten später wieder. Da liegt John in seinem Pflegebett, die halbnackte Wotton streicht ihm über den ganzen Körper und führt seine Hand schließlich über ihre Brust. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tut, lässt keinen Raum für Scham.

Während in “Ziemlich beste Freunde” nur Ohren gestreichelt werden, geht es in “Rachels Weg” ziemlich zur Sache. Und alles ist echt. Die Dokumentation zeigt hilflose Menschen, sabbernde Menschen, und sie zeigt auch erregte Menschen. Trotzdem ist der Film nicht eine Sekunde lang peinlich.

Dass es die Dokumentation der Regisseurin Catherine Scott nach Deutschland geschafft hat, ist der Aktion Mensch zu verdanken. Ihr Festival “überall dabei” zeigt noch bis Mai 2013 in vielen deutschen Städten eine Auswahl von Filmen, in denen es um die Inklusion Behinderter geht.

Wotton reiste für einige Vorführungen ihres Films aus Sydney an. In Osnabrück traf sie bei einer Präsentation auf den Psychiater und Sexualmediziner Uwe Kinzel. Kinzel stellte genau zwei Fragen. Und beide verrieten eine Haltung, die Wottons Kampf erst nötig macht.

Wotton würde vermutlich viele ihrer behinderten Kunden als unglücklich Verliebte zurücklassen, sagte der Oberarzt: “Verkaufen Sie denen nicht eine Illusion?” Nein, sagte Wotton. Sie verkaufe ihnen eine gute Zeit. Es sei klar, dass es um Sex gehe – und nicht um Liebe.

“Ich habe mich so… normal gefühlt”

Kinzel hingegen ging es mit seiner rhetorischen Frage offenbar darum, einen Anachronismus zu bedienen – nämlich den vom armen Behinderten, der in Watte gepackt werden muss. Doch selbst wenn Wotton einem ihrer Kunden das Herz brechen sollte: Haben Behinderte etwa nicht das Recht, unglücklich verliebt zu sein?

John Blades jedenfalls sitzt nach seiner Nacht mit Wotton in einem Strandcafé und feiert sich als Sexmaschine. “Ich glaube, ich war besser als jeder 22-Jährige!” Und dann folgt der vielleicht zentrale Satz des Films: “Ich habe mich so… normal gefühlt.” Nach dem Ende der Dreharbeiten ist John gestorben.

In der Dokumentation erzählt er, der Sex mit Wotton habe sogar einige seiner neurologischen Funktionen wiederhergestellt. Sexualmediziner Kinzel verleitete das bei der Präsentation des Films zu der Aussage, Sex sei gesund, das wüssten wir ja alle. Aber habe denn auch jemand Frau Wottons kolportierte Heilwirkung auf ihre Kunden wissenschaftlich untersucht? Nein, sagte Wotton, dieses Mal mit hörbarem Unverständnis. Wenn es ihren Kunden besser gehe, sei alles gut. “My job is done.”

Kinzel reagierte darauf nicht. Im Film fasst Wotton die Heilwirkung ihres Jobs in einem knappen Satz zusammen: “Ein guter Orgasmus ist manchmal besser als drei Sitzungen Ergotherapie.”

Scarlet Road Video from Paradigm Pictures on Vimeo.

Zum Orginaltext in Spiegel-Online

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top