Wenn Inklusion Überleben bedeuten kann

Sie wollen studieren, auf die Schule gehen, einfach mal einen Ausflug machen: In den überfüllten Flüchtlingslagern in Gaza ist das Leben mit Behinderung besonders beschwerlich. Doch die Betroffenen haben sich organisiert und kämpfen für ihre Träume.

Lubna Al Atawnehs Barriere ist ockerfarben, besser ein schmutziges Gelb-Grau: drei Meter breit und 15 Meter lang. Für das zwölfjährige Mädchen sind die 15 Meter, die zur asphaltierten Straße führen, unüberwindbar. Das Meer ist nicht weit. Manchmal trägt der Wind eine frische Brise bis zur ihr. Oft aber auch Sand, Erde und Staub, wenn es stürmt, die Hitze den Boden zuvor ausgetrocknet hat. Mittlerweile sieht die Gasse, die zu ihrem Haus führt, selbst aus wie eine kleine Sandbank. Für Lubna, die an einer halbseitigen Lähmung leidet, kein Grund zur Freude. Es bedeutet schlicht kein Weiterkommen für sie. Mit dem Rollstuhl würde sie schnell stecken bleiben.

So ist ihre Welt meist auf die beiden gemieteten Zimmer ihrer fünfköpfigen Familie zusammengeschmolzen. Bis zur dritten Klasse besuchte sie noch eine Förderschule. Damals kam ein kleiner Bus und holte das Mädchen an der Schwelle ab. “Dann schlug der Lehrer meine Lubna”, sagt Mutter Kefah Al Atawneh. Und der Familie ging langsam das Geld für den Transport aus. “Wir hätten es uns so oder so nicht weiter leisten können. Wir haben ja schon jetzt Probleme, das Geld für die Windeln von Lubna aufzutreiben”, seufzt die 46-Jährige.

Wie große Teile der Bevölkerung im Gaza-Streifen erhält die Familie aufgrund ihres Flüchtlingsstatus Zahlungen vom Sozialministerium und Hilfsgüter von den Vereinten Nationen. Die schützen vor Hunger, aber vor viel mehr auch nicht. Und Arbeit? Die finden nur die wenigsten. Lubna senkt verschämt den Blick. Es ist nicht schön, von den Windeln zu hören, wenn Fremde im Haus sind. Die Zwölfjährige ist ein schüchternes Kind. Leise erzählt sie ein bisschen von Nadda, ihrer besten Freundin aus Schulzeiten. Dass sie selbst langsam verlernt zu lesen und zu schreiben. Von den türkischen Seifenopern, die Tag für den Tag über den Bildschirm des betagten Fernsehers flimmern. Und die Lubna so gerne sieht. Traumwelten, die so anders sind als die schäbige Straße, in der sie wohnt.

Keiner der Helden in den TV-Sagas sitzt in einem Rollstuhl und hat einen Vater, dem die jahrzehntelange Arbeitslosigkeit und ein Leben als Flüchtling alle Hoffnung geraubt hat. Dem die Schwermut Tag für Tag mehr Kraft nimmt. Bei keinem hängt ein Märtyrerbild eines Onkels an der kahlen Wand. Er starb als Widerstandskämpfer im Schusswechsel mit den israelischen Streitkräften. Ihre Mutter trauert noch immer, das spürt das Mädchen jeden Tag.

Lubna hat sich trotzdem einen Traum bewahrt. Es gibt Schneiderkurse für Menschen mit Behinderungen: “Das würde mir Spaß machen. Ich könnte etwas für meine Mutter nähen und Freundinnen finden”, erklärt das Kind mit ernsthaftem Blick. “Doch die Kurse sind immer ausgebucht. Dabei würden sie Lubna so gut tun”, klagt die Mutter. Eine Chance, die würde sich die Mutter so für ihre Tochter wünschen. “Seit einem Monat kommt eine Physiotherapeutin von der Organisation Baitona zu uns. Sie macht Gymnastik mit Lubna und bringt mir bei, wie ich mit meiner Tochter üben kann. Nur ein Monat, und mittlerweile kann meine Lubna alleine auf die Toilette. Ist das nicht einfach unglaublich?”, sagt die 46-Jährige und blickt stolz zur Tochter. Die lächelt. Ganz kurz haben die beiden sie vergessen, die 15 Meter lange Sandgasse vor dem Haus.

Mit dem Tuctuc gegen Barrieren im Kopf

Um Barrieren in Köpfen zu überwinden, tritt Wafi Al Batran mit voller Wucht auf den Starter. Der Motor in dem chinesischen Tuctuc blubbert. Hinten auf der Ladefläche fängt ein kleiner Junge namens Nour an zu grinsen. Familienausflug bei den Al Batrans. Nour, der spastische Lähmungen hat, sitzt in seinem Rollstuhl auf der Plattform des Tuctuc wie ein König. Der älteste Bruder steht hinter dem Rollstuhl als Leibwächter, und die beiden Kleinen halten sich vorne am Geländer fest. Dann geht es los. Erste Station ist immer die Moschee, dann kommt der Markt, und manchmal geht es auch hinunter zum Strand.

Wafi Al Batran ist ein gläubiger Muslim. Ein Mann mit rundem Gesicht und einem warmen Lachen. Doch wenn Menschen mit Behinderung benachteiligt werden, wird er ungemütlich. “Da verstecken Familien regelrecht ihre Kinder, nur weil Gott sie anders gemacht hat als andere. Was für eine Schande. Wir machen genau das Gegenteil”, sagt der Familienvater.

Dann rollt das Tuctuc los. Die Nachbarn haben sich längst an den Anblick gewöhnt, ein paar Kinder rennen winkend hinterher. So ein Tuctuc kann sich nicht jeder im Lager leisten.

Raus aus den engen Gassen des Flüchtlingslagers. Die Häuser an der breiten Straße wirken nicht mehr so armselig wie die hastig hochgemauerten Unterkünfte in Beit Lahia. Dort lassen graue Mauern kaum einen Sonnenstrahl in die verwinkelten Gassen. Die Flüchtlingslager von Gaza sind hoffnungslos überbewohnt, gelten als die am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Mehr als zwei Drittel der 1,7 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens sind Flüchtlinge, rund 50 Prozent Arbeitslosigkeit unter allen Bewohnern macht sie von den Hilfslieferungen der Vereinten Nationen abhängig. Der Großteil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Seit Vertreibung und Flucht im Jahr 1948 herrscht ein lähmendes Flüchtlingselend in Gaza. Hunderttausende haben ihre Heimat verloren, da scheinen die Rechte von Menschen mit Behinderungen Luxus zu sein.

Heud Al Batran will das so nicht akzeptieren. “Es ist wichtig, dass sich das Denken der Menschen ändert. Ich will, dass Nour in eine ganz normale Schule geht. Es gibt ein Umdenken. Wie haben anfangs die Leute noch geschaut, als mein Mann mit den Kindern losgefahren ist”, lacht die Mutter. Seit auch zu Nour ein Physiotherapeut kommt, hat der Fünfjährige viele Fortschritte gemacht.

“Langsam lernt er, seine Muskeln besser zu kontrollieren. Jetzt kann er schon einen Stift halten. Da sind mein Mann und ich stolz auf ihn. Es hat uns allen Kraft gegeben”, erklärt die Mutter. Sharaf Faqwi nickt zufrieden. Er arbeitet für Handicap International. Die Organisation unterstützt finanziell und mit Know-how lokale Behindertenorganisationen, hilft beim Aufbau von Selbsthilfegruppen, stärkt die Bewegung für Menschen mit Behinderungen. Die Physiotherapeuten von Lubna und Nour werden beispielsweise so mitfinanziert. Bei seiner Arbeit wird Handicap International von Caritas International und Chaine du Bonheur/Swiss Solidarity finanziell gefördert.

“Schön, dass die Al Batrans ihren Sohn mitten in das Leben bringen”, meint Faqwi, als er später im Auto sitzt. Er lächelt. Dann passiert der Wagen das Sportzentrum für Menschen mit Behinderungen. Besser das, was eine Bombardierung der israelischen Luftwaffe 2012 vom Areal mitten in der Stadt übriggelassen hat. Auf einem Mauerstück ist ein Rollstuhlfahrer aufgesprüht. Der Basketballer wirft in das Nichts eines Trümmerfelds.

Die unüberwindbare Hürde für alle

Eine große Halle mit einer hölzernen Trennwand und einer Tischtennisplatte, dämmriges Licht: Der Peace Club wirkt unscheinbar. Aber er hat bei Menschen mit Behinderungen in Gaza-Stadt Klang. Hier organisieren sich Sportler mit Handicap. 2004 holte Hossam Assam Silber für Palästina bei den Paralympics. Er war ein Held für alle in Gaza, ob mit oder ohne Behinderung. Davon erzählt man sich heute noch im Peace Club, und davon, wie sie ihn von der Grenzmauer abgeholt haben: mit einem Eselskarren.

Am heutigen Nachmittag haben sich die Tischtennisspieler des Clubs zurückgezogen. An einer langen Tischreihe sitzen die Vertreter verschiedenster Behindertenorganisationen und Selbsthilfegruppen. Und versuchen sich im Barriereabbau in eigener Sache. Den Vorsitz führt ein junger blinder Mann: Hamza Derdan.

Er hat keine leichte Aufgabe übernommen: Da ist die Selbsthilfegruppe der “Mütter von Kindern mit Behinderungen”, die Gruppe “Frauen mit Behinderungen”, Vertreter verschiedener anderer Gruppen. Jeder hat seine eigenen Interessenlagen. Und alle sollen sich auf einem gemeinsamen Nenner einigen, mit einer Stimme sprechen? “Das ist bitter nötig, wenn wir unsere Rechte durchsetzen wollen”, meint Hamza Derdan.

Er weiß, wovon er spricht. Der 23-Jährige ist frischgebackener Rechtsanwalt. Hat sein Studium mit Bravour bestanden. Ein Freund von ihm hat Hunderte von Seiten Gesetzestexte in ein eigenes Softwareprogramm für Sehbehinderte getippt. Und das war nur eine der Barrieren, die sich auftaten und immer noch überwunden werden müssen.

Gesprächsthema Nummer 1 ist heute das Hauptthema für alle Erwachsenen im Gaza-Streifen: Arbeitsplätze. Hamza Derdan erklärt die Rechtslage, spricht von Quoten von Mitarbeitern mit Behinderungen. Aber was tun, wenn es keine Arbeitsplätze gibt? Der junge Rechtsanwalt lässt sich den Elan nicht nehmen. “Wir müssen die besten von uns fördern, damit Menschen mit Behinderungen ihre Leistungsfähigkeit beweisen können”, sagt Hamza Derdan. Und holt sich damit gleich den Widerspruch der Vertreterin der “Mütter von Kindern mit Behinderung”. “Alle unsere Söhne und Töchter sollen gefördert werden”, sagt sie vehement.

Osama Hamdan lächelt: “Schön, dass die Diskussion so lebendig ist.” Der Mitarbeiter von Handicap International hat viel für den Aufbau der Gruppe getan. “Wir unterstützen nach Kräften die Gründung von Selbsthilfegruppen, damit wir ein Bewusstsein in der Bevölkerung schaffen können”, sagt er. Die Gruppe geht im Guten auseinander. Über Hamza Derdes spricht jeder mit Respekt.

Der junge Mann träumt davon Experte im Internationalen Recht zu werden. Doch da warten viele Barrieren auf ihn. Eine davon könnte seine Karrierepläne von Anfang an zunichte machen: Sie ist Grau, aus massivem Beton, bis zu acht Meter hoch und zieht sich mit unzähligen Wachttürmen versehen über die gesamte Länge der Grenze zum israelischen Gebiet. Wenn er zur Universität nach Jerusalem will oder in die Westbank, er hat keine Chance, sie zu überwinden. Es ist eine Barriere für jeden in Gaza.

Zum Orginaltext in Spiegel-Online von Till Mayer

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