«Was ist schon normal?»

Esther Kessler hat gleich mehrere Handicaps. Trotzdem findet sie, Mitleid sei bei Romy Schneider viel eher angebracht als bei ihr. Warum, erklärt sie ihrer Schwester Manuela.

Von Manuela Kessler

Du kamst mit 1,8 Kilo auf die Welt, weil unsere Mutter ein Virus in der Schwangerschaft aufgelesen hatte. Auf den Brutkasten folgten Operationen. Was ist deine erste Erinnerung?

Wie die Kindergärtnerin in der Schulthess Klinik uns Märchen erzählte: Wir sollten aus Ton das Schneewittchen und die sieben Zwerglein formen. Ich brauchte Hilfe wegen meiner Beeinträchtigung.

Kannst du etwas genauer erklären, wie du beeinträchtigt bist?

Ich bin zerebral …

Ich weiss, dass du nicht gern behindert sagst. Erkläre einfach deine Handicaps.

Alles Manuelle macht mir Mühe. Ich habe Schwierigkeiten beim Schlucken und sehe nicht dreidimensional. Darum ist das Rolltreppenfahren für mich so schwierig und braucht Überwindung. Ich kann auch nicht so gut laufen, weil meine Hüfte nicht richtig ausgebildet ist.

Warum bist du in so vielen Dingen beeinträchtigt?

Einige meiner Hirnzellen sind tot, vor allem in der linken Hälfte. Gesunde müssen deren Arbeit übernehmen, das kann man in den ersten Jahren trainieren.

Wie hast du all die Spitalaufenthalte empfunden?

Traumatisch, auch wegen der ungeliebten Schwester Katharina.

Warum denn ungeliebt?

Sie war grob, und sie sagte meinen Namen immer hart wie ein Stecken: Korin. Darum mochte ich meinen ersten Vornamen auch nie. Nicht einmal, als ich auf Austausch in einem Heim im Welschland war und der Name Corinne richtig französisch ausgesprochen wurde.

Jedes Mal, wenn er ausgesprochen wurde, gingst du fast in die Luft.

Ich hatte eine solche Stinkwut auf diesen Namen, dass ich am Bahnhofskiosk sackweise Puffspeck kaufte. 1993 kam ich zu Omas Geburtstag schliesslich in einem blöden Rock nach Hause, weil ich in keine Hose mehr passte.

Nur wegen des Namens? Das glaubst du doch selber nicht.

Doch, es war so! Vor dem Geburtstag mussten wir noch rasch neue Hosen kaufen. Und nach dem Fest setzten wir uns alle an den Tisch. Du fragtest, was denn der Grund für das Frustessen sei. Ihr habt den Namen noch verteidigt. Da stand ich stinkwütend auf und sagte: «Mit dem blöden Namen könnt ihr mich mal!» Da fragte Mami: «Was willst du denn machen?» Ich sagte: «Den zweiten Vornamen benutzen», der gefiel mir immer besser. Am nächsten Tag sagte Mami dann: «Wir versuchen, in der Familie den Namen Esther zu gebrauchen. Wenn das hinhaut, machen wir es an deinem 25. Geburtstag offiziell.»

Das Wort Behinderung, das die meisten Leute benutzen, kannst du auch nicht ausstehen. Warum?

Eine Behinderung kommt von aussen. Wenn Thomas mit seinem Rollstuhl nicht die Treppe hoch kann, ist die Treppe eine Behinderung.

Bei aller Wörtchenklauberei – die Treppe ist doch ein Hindernis.

Nein! Sie ist eine Behinderung! Ein Hindernis ist bei der Springkonkurrenz. Und was der Thomas hat, dass er im Rollstuhl sitzen muss, ist eine Beeinträchtigung. Und was den Ausdruck «geistig behindert» betrifft, macht der mich besonders sauer, weil wir alle Geist haben – sonst sind wir tot.

Manchmal sprichst du auch von «seelenpflegebedürftig».

Der Begriff stammt von Rudolf Steiner. Seitdem ich im Humanus-Haus in Beitenwil gelebt habe, denke ich in manchen Dingen anthroposophisch.

Inwiefern?

Ich glaube nicht an Himmel und Hölle, sondern daran, dass wir mehrere Leben haben. Und wenn wir in diesem Leben schwere Fehler machen, können wir es im nächsten gutmachen.

Das glauben die Buddhisten auch.

Die Anthroposophen glauben trotzdem an Yeshua, du süsses Kind.

Halleluja – du meinst Jesus?

Ja, aber ich benutze halt den hebräischen Namen.

Du begeisterst dich fürs Judentum: Solidarisierst du dich wegen des Holocausts so damit?

Das tue ich, aber das erklärt nicht alles. Bereits als Kind habe ich «De Zäller Josef» rauf und runter gehört. Vielleicht hat es mit Frau Bollag zu tun, der Weinvertreterin, die ab und an zu Hause vorbeikam.

Das hatte ich vergessen: Du riefst sie auch an, als du das Telefonieren entdecktest.

Da muss ich fünf oder sechs gewesen sein. Erst habe ich unsere Grossmutter, Frau Bollag und andere Bekannte regelmässig angerufen. Weil ich beim Wählen auf der Scheibe nicht genau genug war, lernte ich mit der Zeit aber auch Leute kennen, deren Nummer eine oder zwei Ziffern daneben lag (sie lacht).

Du telefonierst noch immer gern …

Meine beste Freundin und ich haben jetzt abgemacht, dass sie mich einmal in der Woche anruft. Nicht umgekehrt. Damit es keinen unnötigen Knatsch mit ihrem Mann und ihrer Familie gibt.

Können wir darüber reden, wie du dich in etwas hineinsteigerst?

Ja.

Als Kind warst du ein unglaubliches Sensibelchen. Wenn du dich aufregtest, erbrachst du oft.

Manche Dinge machen mich noch heute fast krank. Wenn ich traurig bin, geht das langsam vorbei. Derselbe Käse kommt über Wochen immer wieder hoch.

Wie hast du damit umzugehen gelernt?

Das ist etwas vom Schwierigsten überhaupt. Eine Hilfe ist sicher der Wedel.

Das musst du erklären.

Der Wedel ist ein Bändel oder Schnürsenkel, den ich zum Rumwedeln brauche. Im Moment ist es ein giftgrüner, der Rudolf heisst, Rudolf Wedel. Er beruhigt mich.

Was hilft sonst noch?

Musik hören oder selber auf dem Keyboard spielen.

Alles mit den Händen fällt dir schwer. Du kannst zwar schreiben, aber deine Buchstaben sind meist einen Zentimeter gross. Wie hast du da Klavier spielen gelernt?

In der Sonderschule Wetzikon hatte man die Idee, dass ich mit der Maschine statt von Hand schreiben lernen könnte. Und dass man mir das Motorische erst einmal über die Musik beibringen könnte, weil ich die so liebe. So habe ich Klavierunterricht erhalten. Und Noten lesen gelernt. Aber heute spiele ich meistens nach Gehör, unterhalte manchmal Runden mit allem Möglichen: von Gospels über Mani Matter bis hin zu Ofra Haza.

Was ist dir eigentlich in den Schoss gefallen?

Sprachen fallen mir leicht. Ich habe im Spital mit vier selbst Lesen gelernt, mit dem Buch «Meine Weihnachtslieder». Englisch habe ich mir auch selbst beigebracht durch einen Briefkontakt. Und sogar in Französisch habe ich meine Klassenkollegen schnell überrundet.

Und worin bist du – trotz aller Bemühungen – ein Nüssli geblieben?

Rechnen liegt mir nicht. Und ich kann auch keine Schuhbändel binden.

Wann hast du eigentlich realisiert, dass du beeinträchtigt bist?

So mit … so mit 9 oder 10.

War das schwer für dich?

Nicht die Beeinträchtigung an sich. Aber – nichts gegen das Fernsehen, ich habe selbst ein kleines Gerät im Zimmer. Aber wenn man laufend das Bild des jungen, gesunden Menschen vorgespielt bekommt, ist das mühsam.

Du hast fünf ältere Schwestern, die alle eine Mittelschule besucht haben. Dein Standardvorwurf früher lautete: «ihr Vernünftigen!»

Das war Neid. Auf dich war ich besonders neidisch, weil du noch zu Hause warst. Ich hätte auch gerne das Gymi besucht. Nun ja, an der Sonderschule machte ich zumindest so etwas wie einen Sekabschluss. Und einiges holte ich nach, indem ich dein Büchergestell plünderte, als du in China studiertest.

Wirklich? Was hast du denn gelesen?

Deutsche Literatur: Heinrich Heine, Thomas Mann, Arthur Schnitzler.

Gleichzeitig liest du immer noch Märchen und schaust dir auch die Kinderstunde im Fernsehen gerne an. Kein Widerspruch?

Nein. Ich bin halt irgendwie jung geblieben.

Du bist jetzt 43, wie alt fühlst du dich wirklich?

Vielleicht 14.

Entspricht das, was du romantisch findest, ungefähr diesem Alter?

Ja.

Du hast seit Jahren einen Freund im Humanus-Haus. Worauf freust du dich, wenn du ihn besuchen gehst?

Reden, seine selbst gezeichneten Comics anschauen, Händchen halten, Schmützli geben.

Wünschtest du dir niemals mehr?

Nie.

Wolltest du je eine andere Person sein? Zum Beispiel ich?

Du sein? Um Gottes willen. Ich habe dich zwar gern, aber nein. Ein anderer Mensch wollte ich nie sein. Die meisten von uns Beeinträchtigten sind glücklich. Es gelten einfach andere Massstäbe.

Du lebst heute in der Begegnungsstätte Schwyz, in einer Aussenwohngruppe in Seewen mit anderen Beeinträchtigten. Würdest du nicht lieber zu Hause wohnen?

Nein. Ihr würdet mir zu viel dreinreden. In Seewen habe ich mehr Freiraum.

Du bist einer Beschäftigungsgruppe zugeteilt, keiner Werkstätte. Wo brauchst du Hilfe im Alltag?

Bei einigem, auch beim Kochen. Manchmal vergesse ich einfach, die Herdplatte abzuschalten.

Warum denn das?

Es fällt mir schwer, zu fokussieren und mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Zwei, drei Personen gehen, eine Menge überfordert mich schnell.

Trotz deiner Beeinträchtigungen fährst du allein Zug und Bus. Wie geht das?

Ich bitte fürs Ein- und Aussteigen jeweils um Hilfe.

Kostet dich das keine Überwindung?

Warum sollte es mich Überwindung kosten?

Mir fällt es nicht ganz leicht, um Hilfe zu bitten.

Siehst du, da sind wir verschieden. Das war nie ein Problem.

Du bist zwar immer angekommen, aber manchmal hast du die richtige Station verpasst oder den falschen Zug bestiegen, etwa ins Tessin.

Dann rufe ich halt an. Und wenn mein Handy nicht funktioniert, habe ich ein SOS-Kärtchen mit einer Notfallnummer. Angst, verloren zu gehen, hatte ich nie.

Welche Beeinträchtigung findest du selbst eigentlich am schlimmsten?

Am schlimmsten gibt es nicht. Ich sehe nicht ein, warum mir ein Blinder leidtun sollte. Die Beeinträchtigung gehört zu ihm. Überhaupt: Was ist schon normal?

Was ist denn für dich normal?

Gibt es gar nicht. Jeder ist anders. Kennst du das Grimmsche Märchen von Evas ungleichen Kindern? Der liebe Gott kommt auf die Erde, um Adam und Eva zu besuchen. Die beiden haben inzwischen Kinder. Die einen sind superperfekt, die anderen naja. Die Vorzeigekinder führt Eva dem lieben Gott vor. Er sagte ihnen: «Du wirst Kaiser, du König – oder modern erzählt – du ein Banker, du Manager.» Da sagt sich Eva: «Schön, jetzt hol ich noch die andern.» Der liebe Gott sagt ihnen: «Du wirst Müller, du Bauer, du Fischer.» Da regte sich Eva auf: «Warum bist du so ungerecht?» Der liebe Gott antwortet: «Das verstehst du nicht, Müller und Bauern braucht es auch.» Und: Uns Seelenpflegebedürftige braucht es auch!

Wofür in erster Linie?

Uns braucht es, um dem Leben etwas Bodenhaftung zu geben.

Was hältst du denn von der pränatalen Diagnostik?

Davon halte ich gar nichts!

Du tönst jetzt schon fast wie ein katholischer Fundi.

Du verstehst mich falsch. Wenn es nicht anders geht, bin ich nicht gegen die Abtreibung. Aber ich halte es für eine Anmassung von euch sogenannt Normalen, zu sagen, was ein lebenswertes Leben ist. Da könnte ich euch zum Teil …

Wirf bitte nicht alle in einen Topf.

Du hast recht.

Du kennst Schwerstbeeinträchtigte. Kannst du nachvollziehen, dass sie Eltern überfordern können?

Das kann ich, aber auch solche braucht es. Sonst könnte man auch andere Randgruppen wegwerfen. Das biblische Gebot, du sollst dir kein Bildnis machen, meint: Du sollst dir kein falsches Bildnis machen. Du sollst dem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen.

Sprechen wir vom Bildermachen. «Sissi» schaust du, wann immer es gezeigt wird. Warum eigentlich?

Ich liebe Romy Schneider. Das Mädchenhafte und Verruchte zugleich fasziniert mich – nicht nur in «Sissi», sondern auch in den französischen Filmen.

Identifizierst du dich mit ihr?

Ein wenig. Und ich habe Mitleid mit ihr.

Was? Mit Beeinträchtigten soll man kein Mitleid haben, mit ihr schon?

Man muss unterscheiden. Es gibt das falsche Mitleid, das viele uns entgegenbringen. Es ist kontraproduktiv. Der Schriftsteller Stefan Zweig nannte es die Ungeduld des Herzens. Und dann gibt es das richtige Mitleid.

Und warum verdient Romy Schneider unser Mitleid?

Schwer zu sagen … Weil Magda Schneider zu Romys Unglück beigetragen hat.

Du gibst der Mutter Schuld an ihrem Schicksal. Warum das?

Sie hat Romy erst in ein Internat abgeschoben und dann benutzt, um eine zweite Karriere zu machen. Das ist nicht okay.

Unabhängig von ihrer Mutter hatte sie doch viele Möglichkeiten.

Sie hatte ein tragisches Leben. Das berührt mich.

Du hast kein tragisches Leben?

Nein (sie grinst).

Die komplexe Beziehung zur Mutter ist Romy und dir gemeinsam.

Das stimmt, im Guten wie im Schlechten. Ich weiss, wie stark sich Mami für mich eingesetzt hat. Und dass sie auch erst ausprobieren musste, was etwas bringt.

Wahrscheinlich kannst du nur so viel, weil unsere Mutter alles versuchte und nicht lockerliess.

Sogar Skifahren ohne Stöcke und Velofahren auf drei Rädern habe ich gelernt. Aber ich habe es immer gehasst und seit langem aufgegeben.

Damals war jedes Mal auf Ski oder Velo ein Drama, oh Madonna.

Da konnte Madonna nichts dafür, weder die Sängerin noch die von Einsiedeln.

 

 

Zum ganzen Interview und Originaltext mit Video im Tagesanzeiger

 

6 Kommentare zu „«Was ist schon normal?»“

  1. Die Antworten der Esther, – sind so herrlich erfrischend und unkompliziert in der Aussage.

    An der einen oder anderen Stelle im Beitrag habe ich mich gefunden zur Situation. Ich musste schmunzeln,..

    1. Meint die Bildungsstufe nach der Primarschule. Also die 7., 8. und 9. Klasse. Zu Esther’s Schulzeit wurde zwischen Realschule und Sekundarschule unterschieden, wobei die Sekundarschule ein höheres Niveau aufweist. Heute wird im Kanton TG nur noch von der Sekundarschule mit unterschiedlichen Niveau gesprochen (G, M und E).

    1. Ich denke das der Beitrag in Richtung Gesellschaft ein klitzeklein wenig provozieren soll, sollte. Ich finde es gut.

      In dem Sinne hat es bei dir funktioniert, – das gesagte geht dir nicht mehr aus dem Kopf.

      Das liegt daran das durch das gelesene Wort im Satz zum Beitrag eine Art Kopf Kino entsteht und da der Mensch überwiegend in Bildern denkt bleibt dies hängen. Lg

      P.s.
      Danke für die Erklärung zum Bildungssystem bei euch!

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