Harte Worte?

„Der arme Mann – er ist an den Rollstuhl gefesselt“.

„Bemitleidenswert, diese Frau braucht ein Hörgerät.“

„Das arme Kind! Es muss einen Blindenstock benutzen!“

Ein Text über solche Aussagen, und was ich mir jeweils dabei denke. Und was ein Rollstuhl, ein Hörgerät und eine Brille sonst noch sind, ausser puren Gegenständen des Mitleides.

Karin Morgenthaler

Oben genannte Aussagen hört man, oder zumindest ich, immer wieder. Und ja, ein heikles Thema. Trotzdem wage ich mich daran und ich hoffe, dass Sie mich im Folgenden richtig verstehen.

Natürlich bin ich wirklich dankbar, laufen zu können, hören zu können und – mit Brille oder Linsen – sehen zu können. Ohne Brille käme ich immer noch durchs Leben. (Ok, früher wäre ich mit meiner Sehkraft wahrscheinlich in einer Höhle vom Bären verspeist worden. Da diese Zeiten vorbei sind, stünden meine Chancen auch ohne Brille gar nicht so schlecht.) Auf jeden Fall sehe ich etwas. Und darüber bin ich froh.

Trotzdem: Weshalb ist ein Rollstuhl, ein Hörgerät oder ein Blindenstock bemitleidenswert? Stellen wir uns mal vor, es gäbe keine Rollstühle, keine Hörgeräte oder Sehhilfen. Was dann? Die Hilfsmittel dienen unter anderem dazu, Teilhabe zu ermöglichen. Mitmachen zu können. Inklusion möglich zu machen. Rollstühle, Hörgeräte und andere Gerätschaften sind dazu da, körperliche Unterschiede auszugleichen, Menschen auf eine Ebene zu stellen, eben gerade OHNE einen Unterschied machen zu müssen.

Kritiker und negativ eingestellte Menschen plädieren nun, dass ein Hilfsmittel ja gerade zu über-sichtbar ist und jenes Gerät es verunmöglicht, den Menschen, der es benutzt, neutral zu betrachten. Der Mensch im Rollstuhl wird also auf den Rollstuhl reduziert. Warum eigentlich?

Natürlich, ich gehe einher mit der Meinung, dass in der Schweiz die rollstuhlgängigen Ecken, Bahntüren, Tramtüren und Rathauseingänge ausbaufähig sind. Menschen im Rollstuhl müssen sich immer noch frühzeitig bei der Bahn anmelden; dann stehen extra Angestellte bereit, die ihnen behilflich sind einzusteigen und das gleiche Spiel wieder bei der Haltestelle, an der sie raus müssen. Beachtung und „fünf Minuten Mittelpunkt“ sind also unvermeidlich.

Doch ich denke nicht, dass Menschen deshalb auf den Rollstuhl reduziert werden. Vielmehr empfinde ich es als eine Verunsicherung. Wie reagieren, wenn jemand sitzt, während man selber steht? Wie sich verhalten, wenn einem das Gegenüber die Hand entgegenstreckt und nicht sieht, wo man steht? Wie benimmt man sich, wenn der Gesprächspartner gehörlos ist? Wo ist die vielgepriesene „Lockerheit“, wenn man Menschen mit einer Beeinträchtigung begegnet?

Natürlich habe ich kein Geheimrezept. Doch ich denke mit einer Prise Ehrlichkeit kann viel erreicht werden. Weshalb nicht fragen, was zu tun ist? Was hält uns davon ab, mal nachzufragen, ob es angenehmer wäre, wenn wir auch sitzen würden, statt von oben herab zu sprechen? Weshalb nicht verbalisieren, wo wir stehen oder einfach mal die Hand nehmen? Mal dreimal durchzuatmen – wir sind alle Menschen. Niemand ist perfekt. Und wenn wir in ein Fettnäpfchen treten, wissen wir ganz sicher für den Rest unseres Lebens, wie man es eben NICHT macht. Fragen kostet nichts. Weshalb scheuen sich so viele von uns davor? Bisher ist mir kein Fall bekannt, bei welchem jemand wegen einer Frage einen Kopf kürzer gemacht wurde.

Und: seien wir mal ehrlich. Wenn uns ein Rollstuhl, Hörgerät oder Blindenstock davon abhält, Menschen zu integrieren und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, obwohl die Gerätschaften ja genau dies tun sollten, dann warte ich auf den Tag, an dem mal wieder jemand behauptet, nur Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen seien… Sie wissen schon. Harte Worte? Nun ja, schaut man auf die aktuelle Politik, sind es genau solche Äusserungen, die Aufmerksamkeit erregen und über die alle Welt spricht.

„Eigentlich sollte man einen Menschen überhaupt nicht bemitleiden. Besser ist es, man hilft ihm.“ – Maxim Gorki, russischer Schriftsteller

2 Kommentare zu „Harte Worte?“

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