Ich mag diesen Onkel Herbst

Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin,  Mama, Bloggerin, …

Es ist wieder soweit, die Zeit ist gekommen. Die Zeit, in der alle dem Sommer nachtrauern, öffentlich, laut und permanent. Die Zeit, in der alle in den nächsten Laden steuern, um sich einen XXL-Wollschal, Handschuhe und gefütterte Stiefel zu kaufen. Aus dem Haus? Nur noch mit Coffee-to-go. Die Zeit, in der alle hoffen, der nächste Sommer möge bald kommen. Und wenn das zu lange dauert, freut man sich bereits auf den Frühling.

Es scheint etwas wie bei Familienfesten zu sein. Der Herbst wie der komische Onkel, den niemand richtig mag, jedoch eingeladen werden muss, um den Schein zu wahren. Denn kommen, ja kommen würde er so oder so, ob mit oder ohne Einladung. Der Sommer scheint der angeheiratete, lässige Cousin zu sein. Immer braungebrannt, immer auf Achse, er hat schon alles gesehen und erzählt seine Stories so gekonnt, dass ihm alle an den Lippen hängen.

Ich mag den Sommer, ich mag den angeheirateten Cousin und seine verrückten Geschichten, seine unbändige Lust, etwas zu unternehmen und seine schier endlosen Abende, an denen er grillt und mit Freunden unterwegs ist. Ich mag diesen angeheirateten Cousin und seine lauen Abende, seine Wochenenden, die er an Musikfestivals verbringt und danach tagelang davon erzählt, ich mag seinen Bewegungsdrang und seine fast permanenten Aufforderungen, doch nach draussen zu kommen.

Fast noch etwas mehr aber, mag ich diesen Onkel Herbst. Der still kommt und bei mir, in meinem Herzen, den Platz vom angeheirateten Cousin auf leisen Sohlen eingenommen hat. Der etwas in sich gekehrte, ruhige Onkel, der malen kann in den schönsten Farben. In Farben, die ich mir nicht im Traum ausmalen könnte. Wo er ist, bringt er ein Leuchten in den schönsten Rot- und Erdtönen. Und doch, obwohl er ein fantastischer Maler ist, prahlt er nie damit – ich zumindest habe ihn noch nie gehört. Er streift durch die Gassen und Strassen und schickt sich an, sich wärmer anzuziehen. Er ist ein in sich gekehrter, leiser Geselle. Doch auch ihm kann einmal der Kragen platzen – dann weht ein Wind, dass man schnell die Pflanzen auf dem Balkon in die warme, mittlerweile moderat geheizte, Wohnung nehmen sollte. Doch so plötzlich wie die Winde kommen, so schnell gehen sie wieder. Ich mag diesen Onkel Herbst, der es ermöglicht, endlich wieder ohne schlechtes Gewissen auf dem Sofa zu faulenzen, ein Buch zu lesen oder einen Film zu schauen. Onkel Herbst würde vielleicht meinen, der angeheiratete Cousin Sommer hätte ein ADHS, so umtriebig wie er ist. Doch Onkel Herbst hält sich zurück mit urteilen, für ihn ist jeder genau so gut, wie er ist. Er umhüllt jeden mit dieser Aura, die er versprüht, und freut sich, wenn die Menschen um ihn herum etwas entspannter werden und die Zeit geniessen. Onkel Herbst drängt sich nie in den Vordergrund, dafür ist er zu geerdet. Und das, obwohl er es mehr als verdient hätte, dass man ihm mehr Aufmerksamkeit schenkt als momentan. Und trotzdem, weder hadert er noch ist er nachtragend. Sondern er ist einfach da. Meist still und leise und zeigt seine unvergleichliche Schönheit.

Würde ich zu einem Feste laden, wäre der angeheiratete Cousin sicher auch auf der Gästeliste. Zuoberst jedoch würde sich bei mir dieser Onkel finden.

«Es gibt eine Stille des Herbstes bis in die Farben hinein.» – Hugo von Hofmannsthal, österreichischer Lyriker und Dramatiker, Mitbegründer der Salzburger Festspiele

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