Ich muss mich recovern

Sommerzeit, Ferienzeit. Endlich werden die Tage länger, wärmer, die Seen und Flüsse gefüllt von bunten Badeanzügen mit Menschen drin und  Glacestände säumen die Strasse. Bei einem Kaffe-Latte mit Sojamilch, ohne Schlagrahm und extra starkem Espresso-Shot, hört man – wenn man denn hinhört – oftmals: „Ich habe bald Ferien. Ich muss mal wieder recovern!“ Ein Modewort, Hipstertrend, Schlagwort. Abgeleitet von „Recovery“. Ein Sommertext über das Trendwort.

Karin Morgenthaler

Ja, auch ich bin manchmal schon in einem Alter, wo ich die Generation unter mir nicht mehr verstehe. YOLO, LOL, ROFL, FYI. Aber eines verstehe ich: „Ich muss recovern.“ Mit einem bisschen Stolz habe ich dies letzte Woche festgestellt. Ich bin also noch nicht ganz abgeschrieben, ein wenig Hipster darf auch ich mich nennen.

„Ich muss mich recovern“ leitet sich ab von „Recovery“. Wörtlich übersetzt „Wiederherstellung“. Recovery ist ein Behandlungsansatz in der Psychiatrie. Und kann mit „Gesundung“ erklärt werden. Ja, Recovery ist eine Bewegung, welche von Betroffenen ins Leben gerufen wurde. Recovery ist die Überzeugung, dass ein selbstbestimmtes, von Sinn erfülltes Leben, trotz beispielsweise einer psychischen Erkrankung, möglich ist und „gut“ ist. Ausserdem sollen die Bewegung und die daraus resultierenden Erkenntnisse helfen, dem professionellen Umfeld eine Orientierung zu geben.

Muss ich mich also recovern, sprich in die Ferien gehen, bin ich kaputt und muss mich dementsprechend wieder herstellen. Mein Leben ist möglich, erstrebenswert und gut, obwohl ich arbeiten muss. Aber von dieser Arbeit muss ich mich echt 2x im Jahr recovern. Obwohl ich arbeite, habe ich ein sinnerfülltes Leben und kann doch grosse Teile in meinem Leben selbst bestimmen. Ausserdem habe ich die Hoffnung, dass meine Gesundung – oder Freizeit? – möglich ist. Darum muss ich mich recovern. Und mein Recovery in den Ferien hilft meinem Chef, meinem professionellen Umfeld, eine Orientierung zu geben, was hilfreich ist, was weniger. Und es hilft ihnen, mir Mut und Hoffnung zuzusprechen, wenn ich mal wieder vor einem herausfordernden Termin stehe.

Oder wie ist das gemeint?

Ja, mir ist klar, ich übertreibe. Und auch klar ist, dass es immer wieder solche Wörter geben wird, die wir benutzen und die eigentlich aus einem anderen Kontext stammen. Das weiss ich, da ich ja auch einmal jünger war und auch solche Wörter „umfunktioniert“ habe – manchmal sogar noch heute.

Ich persönlich finde es einfach spannend, Wörtern auf den Grund zu gehen. Und beispielsweise das Recovery der Psychiatrie in den Kontext von Ferien – und zwar wörtlich – zu versetzen.

In diesem Sinne hoffe ich, auch Sie können sich recovern – auf welche Art auch immer.

„Erholung ist die Würze der Arbeit“ – Plutarch von Chäronea, griechischer Philosoph und Historiker

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