In einem Wohnheim für psychisch Erkrankte kann auch nicht jeder arbeiten!

Wie sieht der Alltag im sozialpsychiatrischen Bereich aus? Was mache ich den ganzen Tag und das ganze Jahr hindurch? Sind meine Arbeitstage jede Woche gleich und wenn nein: worin unterscheiden sie sich? Wie sieht die Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern aus? – Ein Selbstinterview von der Front mit dem Wissen um Unvollständigkeit und Unterschieden von Bereich zu Bereich.

von Karin Morgenthaler

Werde ich gefragt, was ich arbeite, und ich dann antworte: „Ich arbeite in einem Wohnheim für psychisch erkrankte Erwachsene“, weiten sich oft die Augen meines Gegenübers und dann kommt häufig eine Art Respektzollung und der Nachschub, dass „dies“ auch nicht jede/r machen könnte. Nicht? Warum eigentlich?

Ich befrage mich nun selber und versuche, kurz und knackig und doch so detailliert wie möglich, zu antworten.

„Also, in einem Wohnheim für psychisch Erkrankte zu arbeiten kann auch nicht jeder!“

Nein? Warum nicht? In erster Linie sind es Menschen, in meinem Fall Erwachsene, welche bei uns wohnen. Auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung stellen sich nicht vor als: „Hallo, ich bin Anja und ich leide unter einer psychotischen Episode“, sondern mit: „Hallo, ich bin Anja, bin 54 Jahre alt und lese sehr gerne.” Es sind also in erster Linie Menschen. Menschen mit einer psychischen Erkrankung und nicht umgekehrt. Natürlich braucht es Fähigkeiten, um in diesem Berufsfeld zu arbeiten. Und das sind: Interesse, Neugier und, was ganz hilfreich ist, ein gewisses Wissen um die Besonderheiten psychischer Erkrankungen. (Ach ja, und die Fähigkeit, die Schweigepflicht einzuhalten. Und daher ist dieses Beispiel mit Anja frei erfunden).

„Was machst du denn den ganzen Tag?“

Nun, das kommt auf meinen Dienst an. Ein Frühdienst ist mehr Büroarbeit, ich bin da, beantworte Telefonanrufe, achte auf die korrekte Medikamenteneinnahme, führe Weckaufträge aus, biete Raum für Gespräche und auch mal einen Schwatz zwischen Tür und Angel. Arbeite Dinge ab, welche in der Agenda stehen und gebe am späten Nachmittag den Rapport ab. Der Spätdienst hat wieder andere Eigenheiten. Sei dies den Bewohnerinnen und Bewohnern das Geld auszuzahlen oder ihre verschiedenen Ämtli zu visieren und auch sie bei der Erledigung von diesen zu unterstützen. Ich bin behilflich beim (Wieder-)Erlernen des Putzens, Waschens und Aufräumens und biete ebenfalls Raum für Gespräche. In der Nacht bin ich da für Notfälle, psychische wie physische. Am Wochenende lasse ich das Büro öfters Büro sein und biete Aktivitäten an. Ausserdem wird gekocht, gebruncht, gegessen, eingekauft und die Räumlichkeiten werden gereinigt. Wochenende ist Wochenende – auch für mich in der Betreuung. An den Wochenenden sind Themen wie Freizeitgestaltung und Ernährung von grosser Bedeutung.

Und egal, welchen Dienst ich gerade habe, ich bin immer als Mensch hier und versuche neben all dem Professionellen, auch eine Normalität hinein zu bringen. Nicht jedes Gespräch ist total psychologisch geführt und lange nicht jedes Gespräch endet mit konkreten Abmachungen oder gar Lösungen. Und manchmal biete ich auch einfach  Raum, um sich zu reiben, um sich aufzuregen, um zu weinen oder um zu lachen.

Und neben all dem „Betreuerin-Sein“ gibt es noch diverse Aufgaben innerhalb der Organisation. So schreibe ich beispielsweise diese Blogs, diese Worte, die Sie genau jetzt lesen.

„Wie sieht deine Woche aus?“

Das kann ich beim besten Willen nicht pauschal beurteilen. Wir arbeiten im Schichtbetrieb, daher gleicht keine Woche der anderen. So ist auch das Jahr total unterschiedlich. Ausserdem habe ich festgestellt, dass die Intensität der Betreuung niemals stagniert, sondern wellenartig durch das Jahr hindurch variiert. Woran das liegt? Keine Ahnung. Vielleicht an den Jahreszeiten, vielleicht an den Mondphasen, an den Wochentagen oder der Zeitverschiebung. Wirklich, ich weiss es nicht.

„Ist es überhaupt möglich, sich abzugrenzen, wenn du so oft im Wohnheim bist und so nah an den Bewohnerinnen und Bewohnern?“

Ja, das ist es. Wenn es nicht möglich wäre, würde ich wohl kaum schon im vierten Jahr hier arbeiten. Und natürlich habe ich – wahrscheinlich wie viele andere auch – Strategien, mich abzugrenzen und die Arbeit auch Arbeit sein und sie in Romanshorn hinter mir zu lassen.

Wenn nicht, hätte ich schon lange gewechselt, irgendwo hin, wo ich weniger nah dran bin. Aber das ist es, was ich schon immer wollte. Nah dran sein. Für mich persönlich wäre ein Bürojob nichts – die Klientinnen und Klienten, wenn überhaupt, eine Stunde pro Woche zu sehen, nein, das wäre mir zu weit weg. Ich mag es, miterleben zu können, wie Schritte aus einer Krise heraus passieren, wie es plötzlich klappt mit den Zielen, die gesteckt wurden. Ich mag es, auch mal an den Wochenenden zu arbeiten, mit viel Zeit und gemeinsamen Aktivitäten. Wie oft war ich schon froh, dass ich eine professionelle, vertrauensvolle Beziehung aufgebaut habe, wenn eine Krisensituation eingetreten ist. Dies hilft enorm – denn, wo Vertrauen ist, kann darauf aufgebaut werden und Schritte gewagt werden, die Mut kosten.

„Freude an der Arbeit lässt das Werk trefflich geraten.“ – Aristoteles, griechischer Philosoph

3 Kommentare zu „In einem Wohnheim für psychisch Erkrankte kann auch nicht jeder arbeiten!“

  1. Christina Tsarouchas

    Wirklich schöne, verständliche, menschliche, lebensnahe und differenzierte Antworten und Gedanken einer Betreuungsperson in einem Wohnsetting.

    Viele Grüsse

  2. Liebe Karin. Ich arbeite seit ca. 30 Jahren in der Betreuung. Ich habe immer wieder versucht meine Arbeit Menschen begreifbar zu machen. Es ist mir meistens nur ungenügend gelungen. Mit diesem Blogbeitrag hast du unsere Arbeit erfasst und es bedarf keiner weiteren Ergänzung. Danke

  3. Super toll geschrieben! Macht dich sehr symatisch! Wirft ein anderen blick auf psycjisch kranke menschen oder reden wir von psychisch gesunden?

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