Irgendwie den Anschluss verpasst

Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin,  Mama, Bloggerin, …

Er verstehe es ja, meint der Herr, der älter aussieht als er tatsächlich ist, zu mir. Er verstehe es, dass die “Jungen” Karriere machen wollen, unabhängig und frei sein wollen. Er hätte das genauso gerne getan, nur damals sei das eine andere Zeit gewesen. Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. «Selbstgedreht», sagt er und zeigt seine übrig gebliebenen Zähne. Sein Lächeln wird schief. «Ist halt günstiger», und deutet auf die Zigi.

“Aufgewachsen bin ich als Jüngster von sieben Kindern auf einem Bauernhof dort ganz weit hinten.» Er deutet mit dem Kopf in Richtung Appenzellerland. Das sei eine unglaublich anstrengende, aber auch wunderschöne Zeit gewesen, seine Kindheit. Ackern mussten sie, wie “die Ochsen”, dafür aber hätte er eine Kindheit voll von Natur, Tieren und Gspänli erlebt. Ein Bauernhof, eine grosse Familie und viele Verwandte. “Denn, auf die Strasse stellen wollten wir keinen von meinen Onkeln.» So hätten teilweise bis zu fünf Erwachsene – nebst den Eltern – auf dem Hof gewohnt. Wenn er heute darüber nachdenke, dann komme er zum Schluss, dass diese Onkel sonst Sozialhilfe hätten beziehen müssen.

Er zündet die nächste Zigi an. Wann er diese gedreht hat, ist mir entgangen.

Sozialhilfe sei verpönt gewesen. Und wenn er sich so umhöre, dann sei sie das heute noch. «Aber», so meint er, «in eine komische Richtung verpönt.» Beschreibungen wie “faul” oder “auf der Tasche liegen”, das höre er oft. Dabei sei er kein Fauler, nein, er sei immer ein Schaffiger gewesen. Er habe halt irgendwie den Anschluss verpasst, hätte keine “richtige Lehre” machen können.

Er holt Zündhölzer aus seiner Tasche, um eine neue Zigarette zum Glühen zu bringen. Er lacht. «Ich bin ein Meister des Zigidrehens, da hab ich den Dreh richtig raus.» Wir lachen beide. Wo er Recht hat, hat er Recht. Dann wird er schnell wieder ernst. Sowieso dauern die Momente, in denen er lacht oder lächelt, bisweilen immer ganz kurz. Der Ernst ist ihm auf die Stirn geschrieben. Er habe eine grosse Familie, alle seine Geschwister hätten Kinder. Doch bei ihnen wohnen, sei für ihn nie in Frage gekommen. Er habe gesehen, dass alle so sehr beschäftigt seien mit Studium oder Lehre, Reisen und selber Familie gründen, dass er nicht um “Asyl” beten wollte, wie er sagt. «Karriere ist wichtig, das verstehe ich. Und auch frei zu sein, frei von Verpflichtungen, das ist ein kurzer Moment im Leben, den sollen sie geniessen.»

Und so wohne er in einer kleinen Wohnung, komme “grad so über die Runden”.

Was geht ihm durch den Kopf, wenn er liest, dass Sozialhilfe gekürzt werden soll?

Er zündet die nächste Zigi an (wie macht er das bloss?) und verliert sich in seinen Gedanken. Weit weg schaut er, als schaue er über die Hügel drüber. Er schüttelt den Kopf, sagen könne er dazu nichts mehr. Er wolle auch nicht. Er hoffe einfach, dass jene, die Kürzungen vorantreiben, nie selber in so eine Situation kommen. «Aber gell», bittet er mich, «schreib das nicht so, als meine ich das böse oder gehässig.» Ich beruhige ihn. «Weisst du, manchmal stelle ich mir vor, die ganze Schweiz wäre eine Familie. Und eine Familie hilft dem Schwächsten. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich selber als schwach bezeichnen konnte. Obwohl, mit so wenig Geld auszukommen, das ist eine Stärke. Ich bin stark im Sparen, das ist doch auch was.» Wieder zeigt er seine wenigen Zähne, nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückt sie aus bis keine Glut mehr übrig ist. «Danke für das Getränk», sagt er und verschwindet im Abendrot.

«Man kann nicht allen helfen», sagt der Engherzige und hilft keinem. – Marie von Ebner-Eschenbach, mährisch-österreichische Schriftstellerin

1 Kommentar zu „Irgendwie den Anschluss verpasst“

  1. Es ist dieser Satz, der für mich Hoffnung und Ängste gleichermassen befeuert:

    «Weisst du, manchmal stelle ich mir vor, die ganze Schweiz wäre eine Familie. Und eine Familie hilft dem Schwächsten…..

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top