So sehen Depressionen aus

Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin,  Mama, Bloggerin, …

Letztlich habe ich auf einer Seite einer Gratiszeitung einen Artikel gelesen mit der Überschrift «So sehen Depressionen aus». Im Text beschreibt eine Frau, Mutter und Ehefrau, ihren Alltag mit Depressionen. Auf einem Bild, das dazugehört, zeigt sie ihre Küche. Zu sehen ist die Spüle und die Ablage, voll mit Geschirr. Es stapelt sich in die Höhe und scheint mehrere Tage alt zu sein. Was die Frau im Text dann auch so beschreibt.

Und ja, ich gebe es zu, ich lese meist auch die entsprechenden Kommentare.

Sehr viele Kommentierende waren sich einig, dass Depressionen, wie auch allgemein psychische Erkrankungen, endlich entstigmatisiert werden sollten, und es «mutig, richtig, wichtig finden», dass Betroffene ihre Erkrankung öffentlich zeigen.

Etwa fast gleich viele Kommentare lauteten jedoch gänzlich anders.

Es wurden Fragen gestellt.

«Warum holt sie sich keine Hilfe von der Familie? Sie hat ja einen Mann und Kinder, die helfen können.»

«Für ein Foto und einen langen Text hat sie die Kraft, aber um sauber zu machen nicht? Fragwürdig. Meine Meinung.»

«Warum legt sie das dreckige Geschirr nicht in den Geschirrspüler? Geht doch schneller.»

Ja, und während ich diese Kommentare so gelesen habe, wurde mir – mal wieder – richtig bewusst, weshalb sich Betroffene kaum trauen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Kommentare wie oben beschrieben klingen à la: “Machs doch so und so, dann geht’s dir besser”. Und ganz allgemein entsteht der Eindruck, dass ein leiser Vorwurf mitschwingt, als ob die Betroffenen irgendwie selbst schuld sind an ihrer Situation. «Gell, bei Depressiven ist’s doch so: einfach mal den Finger aus dem Füdli nehmen, dann geht’s aufwärts.» So, oder so ähnlich habe ich schon zig Sätze gehört.

Ja, liebe Leute. Wenn wir in unserer Gesellschaft psychische Erkrankungen weiterhin stigmatisieren möchten, sie als selbstverschuldet wahrnehmen und es doch so einfache Lösungen geben würde, damit es einem besser geht, ja dann machen wir weiter mit solchen Kommentaren. Dann bleibt nämlich alles beim Alten.

Wenn nicht, sollten wir unsere Ansichten überdenken. Oder einen Paradigmenwechsel vornehmen.

Angenommen das Bild hätte ein Jus-Student gepostet mit dem Kommentar: «Das Studium raubt mir sogar die Zeit, um abzuwaschen, und am Wochenende habe ich keine Zeit dafür, weil ich richtig hart feiern gehe!». Was glauben Sie, welche Kommentare würden wir lesen? «Für ein Foto und den Text reicht die Zeit aber? Fragwürdig!» – wohl eher kaum. Wahrscheinlich würden sie eher in die Richtung von «yeah, Freitag wieder am Start? Lass das Geschirr Geschirr sein – wir sind nur einmal jung! YOLO» oder «hahaha, bestell dir halt Essen – gibt kein Abwasch ».

«Durch die Gasse der Vernunft muss die Wahrheit ständig Spiessruten laufen.» – Indira Gandhi, indische Politikerin

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top