Sozialraumorientierung und IBB

Antje Sommer, MA, Dipl. Soz.-Päd.

Im Zuge der Umsetzung des Neuen Finanzausgleichs (kurz: NFA) entwickelten die Kantone im Bereich der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung eine neue Finanzierungsystematik für die Leistungen. An die Stelle einer reinen Objektfinanzierung (Finanzierung eines Wohn- und Betreuungsplatzes) trat die sog. Subjektfinanzierung (Finanzierung der Betreuungsleistung entlang eines individuellen Bedarfes). Die Erfassung des IBB erfolgt über ein eigens entwickeltes

Einstufungssystem: anhand vorgegebener Themenbereiche (sog. Indikatoren) wird die Häufigkeit der Betreuungsleistungen in Punkten quantifiziert und diese Punkte führen zu fünf IBB-Stufen. Ziel dieses Finanzierungssystems ist es, Leistungen transparent und vergleichbar zu machen sowie Grundlagen für eine leistungsorientierte Finanzierung zu schaffen. In vielen Kantonen wird in den Einrichtungen mit diesem Instrument der individuelle Bedarf an Betreuung ermittelt und re-finanziert[1].

Auf den ersten Blick scheinen Sozialraum- und Lebensweltorientierung und die Finanzierungssystematik des Individuellen Betreuungsbedarfs (kurz: IBB) doch gar nicht so weit auseinander zu liegen: beide stellen das Subjekt – also den Mensch mit Behinderung – ins Zentrum. Schaut man sprachlich genauer hin, so fallen zwei zentrale Begriffe in Thesen und IBB ins Auge: Bedürfnis und Bedarf. Bedürfnisse und Bedarf sind nicht dasselbe: ein Bedürfnis verspürt man als einen Mangel oder einen Verlust, als Unzufriedenheit, welche den Menschen dazu bewegt, eine Handlung zur Befriedigung oder Beseitigung dieses Mangels auszuführen. Nicht jedes Bedürfnis ist in Form eines Bedarfes anerkannt: ein Bedarf als gesellschaftliche Norm wird durch den Kanton als Leistungsbesteller definiert und legt die Ressourcen im Sinne von wünschbaren oder benötigten Mitteln fest. Dem Finanzierungssystem des IBB ist das Spannungsfeld zwischen Bedürfnis und Bedarf inhärent: Der IBB basiert auf einer Bedarfserhebung via standardisierter IBB-Indikatorenraster – diese geben die Themenbereiche, zu denen Leistungen erfasst und somit mittels Punktwerten re-finanziert werden können. Eine nähere Betrachtung dieser Themenbereiche offenbart, dass ein Teil möglicher Bedürfnisse enthalten ist: so wären beispielsweise Leistungen zu den Zielen via Indikator zur Förderplanung des Wohnen oder soziale Integration und Partizipation via Indikator zum Zusammenleben des Bereichs Psychische Behinderung / Suchtbehinderung abbildbar. Darüber hinaus finden sich Bedürfnisse, die nicht explizit mit Themenbereichen der IBB-Indikatorenraster in Verbindung gebracht werden können, wie beispielsweise biologische Bedürfnisse nach sexueller Aktivität und Fortpflanzung, die explizit ausschliesslich in strafrechtlich abweichender Form als bedarfsorientierte Leistung erhalten sind (Indikator 5.4 Wohnen) oder psychische Bedürfnisse nach Abwechslung, Informationen zur Orientierung oder soziale Bedürfnisse wie bindende Beziehungen, emotionale Zuwendung oder soziale Anerkennung. Die Übersetzung zwischen bedürfnisorientierter Einzelfallarbeit und bedarfsorientierter Abbildung der Leistungen via Finanzierungssystematik der IBB stellt meines Erachtens auf Einrichtungsebene die grosse Herausforderung im Zuge der jährlichen IBB-Erhebung dar, die jedoch mit Blick auf gut strukturierte und in der Zuständigkeit geregelte Einrichtungsprozesse und dem klaren Fokus auf den Einzelfall mittlerweile gut gelöst wird. Das Finanzierungssystem IBB ist auf Einzelfallebene in den Einrichtungen angekommen.

Sozialraumorientierung und Lebensweltorientierung gehen jedoch einen Schritt weiter. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtkonvention bekommen Forderungen wie beispielsweise der Zugang zum Arbeitsmarkt, die freie Wahl des Aufenthaltsortes, die selbstbestimmte Wahl der Wohnform, die auf Fachebene bereits seit einigen Jahren diskutiert werden, mehr Gewicht. Diese Forderungen nach Inklusion und Teilhabe einzulösen setzt voraus, dass (a) eine fallunspezifische sozialräumliche Netzwerkarbeit durch die Einrichtungen betreiben wird und (b) einer stabilen Finanzierungsgrundlage. Die „Entmachtung“ der Professionellen scheint je nach Perspektive ganz unterschiedliche Dinge zu enthalten. Die bedarfsorientierte Planung und Finanzierung der Leistungen für Menschen mit Beeinträchtigungen liegt insbesondere auf kantonaler Ebene. Auf dieser Ebene wird bestimmt und legitimiert, welcher „Bedarf“ an inklusiven Angeboten für Menschen politisch machbar und mit den bestehenden Ressourcen umsetzbar ist. Es stellt sich die Frage, inwieweit bei derzeitiger angespannter finanzieller Situation die Ressourcen und das sozialpolitische Interesse vorhanden ist, die Forderungen der UN-Behindertenrechtkonvention überhaupt einzulösen. Sichtbar werden derzeit zwei mächtige Akteure: die in den Einrichtungen tätigen Professionellen (Leistungserbringende) und die kantonal verantwortlichen Stellen (Leistungsbestellende). Das Ziel der autonomen Lebensführung nach Art. 19 der UN-Behindertenrechtkonvention im Sinne der Befähigung und Teilhabe an normalisierten Lern- und Erfahrungsfeldern setzt voraus, dass fallunspezifische sozialräumliche Vernetzungsarbeit geleistet wird, damit derzeit mit Zugangsbarrieren versehene Räume (z. B. im Vereinswesen, in der Arbeitswelt) überhaupt erst erschlossen werden können. Beispielsweise wäre zu sensibilisieren für den Normalitätsvorstellungen nicht entsprechende Lebensentwürfe oder Zugänge zum Arbeitsmarkt via gezielter Netzwerkarbeit und anschliessender Arbeitsassistenz wären zu erschliessen. Derartige fallunspezifische, für die Einlösung von Inklusion und Teilhabe jedoch unabdingbare Leistungen scheinen derzeit nicht re-finanzierbar. Inklusion – so viel ist sicher – ist von beiden mächtigen Akteuren gewollt. Ressourcenknappheit und parteipolitisch gefärbte sozialpolitische Interessen bergen jedoch zugleich die Gefahr, dass Vernetzungsarbeit in den Sozialraum im Spannungsfeld zwischen wesentlich günstigerer ehrenamtlicher Arbeit und „teurer“ durch Fachpersonen geleisteter Arbeit eine Verschiebung zugunsten eines kostengünstigeren  Ehrenamtes erhält. Es muss hier betont werden, dass viele Menschen mit Behinderung ein intaktes, zur sozialen Unterstützung bereitstehendes Umfeld nicht haben. Essentielle Ressourcen müssen im sozialräumlichen Kontext erst erschlossen werden. „Den sozialen Raum kann man sich als Netz vorstellen, dessen Knotenpunkte die einzelnen Menschen und Organisationen symbolisieren, während die Verbindungsmaschen die Beziehungen zwischen ihnen sind, die als Förderbänder gedacht werden können, auf denen die vielfältigsten Austauschprozesse ablaufen und unter der Hand die Integration der Individuen in die Gesellschaft erfolgt“ (Früchtel et al.[2], 2013, S. 37). Beschränkt sich Soziale Arbeit auf eine allein professionelle Hilfe, so Richmond, dann sondert sie aus – der Inklusionsgedanke kann so nicht erfüllt werden. Die Umwelt –beispielsweise  Verwandte, Freunde, Nachbarn, Vermieter, Arbeitgeber, Pfarrer, Vereine, Selbsthilfegruppen, Gewerkschaften und viele mehr – bieten Chancen der Inklusion und des Auslebens eines Mensch-Seins als soziales Wesen (vgl. Früchtel et al., 2013, S. 36). Die individuelle Arbeit im Einzelfall ist dank der langen Pilotphase des IBB heute wesentlich besser im Voraus kalkulierbar. Nicht finanziell abgedeckt hingegen scheint der fallunspezifische Teil, der einerseits die Forderung nach Nicht-Diskriminierung der UN-Behindertenrechtkonvention umsetzt und andererseits erst die Grundlage schafft, um im Einzelfall situationsspezifisch schnell und unkompliziert Netzwerkstrukturen nutzbar zu machen.

Die Finanzierungslogik des IBB befördert hierbei die Orientierung an den Bedürfnissen im Einzelfall. Zugleich stellt sich mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen subjektiven Bedürfnissen und bedarfsorientierter Leistungsfinanzierung im Einzelfall die Frage, inwieweit „massgeschneiderte Lösungen“, die der lebensweltlichen Perspektiven radikal Rechnung tragen, überhaupt finanziert werden (sollen). Zum Beispiel, wenn eine Person mit einer psychischen Behinderung und einem gemäss IBB mittleren bis schweren Individuellen Betreuungsbedarf statt auf einer stationären Wohngruppe in einer Einzelwohnung, ggf. angegliedert an eine Wohngruppe, lebt. Der Betreuungsbedarf reduziert sich in der Regel nicht durch diese Wohnform – die Lebensqualität der Person kann hierdurch jedoch deutlich steigen. Letztendlich lässt sich auf der Grundlage der bestehenden Finanzierungssystematik alles auf eine zentrale Frage zuspitzen: „Wie viel dürfen Inklusion, lebensweltorientierte und sozialraumorientierte Teilhabe kosten?“. In den Worten von Hans Thiersch müsste darüber hinausgehend eine weitere Frage aus fachlicher Perspektive heraus erlaubt sein: „wie gelingt es Menschen, bei der Bewältigung ihres Lebens zu unterstützen, damit sie (wieder) Regisseure ihres eigenen Lebens werden – und wie gelingt es gut?“[3]. Als Vision eines „guten Gelingens“ bleibt, darauf zu verweisen, dass Lösungen ausschliesslich unter Einbezug aller drei Akteure – Kanton als Leistungsbesteller, Einrichtung als Leistungserbringer und Mensch mit Behinderung als Leistungsempfänger – erarbeitet werden können. Hierbei sind über die rein bedarfsorientierte Planung von Plätzen in unterschiedlichen Wohnformen und Tagesstrukturangeboten hinaus insbesondere auch Visionen eines inklusiven und teilhabeorientierten Zusammenlebens im sozialräumlichen Umfeld zu entwickeln. Inklusion und Teilhabe sind hierbei an Kategorien der Vielfalt auszurichten, die Machtaspekte der Konstruktion von Zugängen und Ausschlüssen ebenso berücksichtigen wie die Erarbeitung von Lösungen mit verschiedensten Akteurinnen und Akteuren im sozialräumlichen Umfeld.

[1] Siehe: SODK Ost+ (2014). Der Individuelle Betreuungsbedarf (IBB): Einführung und Wegleitung.

[2] Früchtel, F., Cyprian, G. & Budde, W. (2013). Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: theoretische Grundlagen (3. Aufl.). Wiesbaden: VS.

[3] Zitiert von M. Seithe, nationale AvenirSocial Tagung am 2. November 2012 an der FHNW, Olten.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top