Stationäre Einrichtungen sind keine Raumschiffe!

Einige Gedanken zum Verhältnis von Institutionen und Sozialräumen

Christian Reutlinger, Leiter Institut IFSA-FHS , Sozialraumforscher

„Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff völlig schwerelos“ (Schilling 1982) – auf der Neuen Deutschen Welle reitend, gelang es in den frühen 1980er Jahren mit eingängigen deutschsprachigen Songtexten, auch gesellschaftskritische Gedanken an ein breites Publikum zu bringen. Die Kritik an der Art und Weise, wie von der gesellschaftlichen Norm abweichende oder sogenannt auffällige Menschen in Erziehungs-, Besserungs-, oder Irrenanstalten untergebracht und hinter Anstaltsmauern verwahrt wurden, setzte jedoch bereits früher ein. Beispielsweise durch die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der sogenannten Heimkampagne Mitte der 1960er Jahre. In vielen Fürsorgeeinrichtungen herrschten damals autoritäre und unterdrückerische Zustände, was der kanadische Soziologe Erving Goffman in seinen Analysen zur „totalen Institution“ beschrieb (Goffman 1973 [1961]). Einrichtungen befanden sich, Raumschiffen gleich, in einem von der Erde, oder zumindest vom gesellschaftlichen Leben, völlig losgelösten Zustand –, um bei Peter Schillings Bild zu bleiben. Vielfach waren sie geographisch ausserhalb von Siedlungsgebieten verortet. Das Geschehen im Inneren wurde durch dicke Anstaltsmauern abgeriegelt und dadurch unsichtbar für die Gesellschaft. Verwahrloste oder auffällige Personen, die durch harte Erziehung und Zwang gebessert oder zu fleissigen Arbeiterinnen und Arbeitern gemacht werden sollten, verloren mit der Unterbringung jeglichen Kontakt zu ihrem bisherigen Leben. Die gesellschaftliche Formel „Aus den Augen, aus dem Sinn“ setzte sich auch in organisatorisch-struktureller Hinsicht fort, indem nicht so genau auf das im Innern herrschende Regime, die Macht- und Unterdrückungsstrukturen geschaut wurde. Sozialpädagogische und psychiatrische Praxis entwickelten sich durch diese mit dem Alltag unverbundene Raumschiffposition vielfach in eine ungute Richtung. Die gegenwärtige Aufarbeitung von Zwangsverwahrungen bringt nach und nach ans Tageslicht, dass sozialpädagogische und psychiatrische Praxis nie ausserhalb von Raum und Zeit stattfinden. Vielmehr sind sie eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge. Vorherrschende Normalitätsvorstellungen geben den Rahmen vor, ermöglichen zu handeln, gleichzeitig werden dadurch normalisierende Denkweisen reproduziert. Ausgehend von der Erkenntnis des gesellschaftlichen Eingebundenseins institutioneller Praxis stellt sich die Frage, wie Institutionen sozialräumlich betrachtet werden könnten.

Sozialraumarbeit – als örtliche, menschliche und organisationelle Rück- und Einbettung institutioneller Praxis in den lokalen Kontext

Mitten in der Gesellschaft, rückgebunden in den lokalen Kontext und eingebettet im Leben – so liesse sich ein Gegenbild zum Raumschiff skizzieren. Dieses Gegenbild wird in sozialpädagogischen Diskussionen nicht erst in jüngster Zeit propagiert. Vielmehr werden die unterschiedlichsten Reform- und Öffnungsbestrebungen, die in der aufgezeigten Institutionenkritik begründet sind, seit ungefähr zwei Jahrzehnten zu einem Grossen und Ganzen gebündelt: Institutionelle Praxis hätte sich am sogenannten „Sozialraum auszurichten bzw. zu orientieren. Angesetzt wird dabei an ganz unterschiedlichen professionellen Gestaltungsebenen: in örtlicher Hinsicht sollen Professionelle der Sozialpädagogik und -psychiatrie ein Bewusstsein entwickeln, dass eine stationäre Einrichtung nicht unabhängig von ihrer Umgebung gedacht werden kann. Immer ist sie an einem bestimmten Ort angesiedelt und aus und in diesem Kontext der Gemeinde oder Stadt zu denken. Durch die Anordnung der Gebäude, durch die Gestaltung des Geländes, durch die Zugänglichkeit zu und aus der Institution werden Kontakte zwischen den Personen innerhalb und ausserhalb ermöglicht oder aber unterbunden. Die Undurchdringlichkeit physischer Grenzen, wie der Anstaltsmauern, ist ebenso zu hinterfragen wie soziale, d.h. zwischen Menschen bspw. mit unterschiedlichen Ressourcen oder verschiedener Herkunft, und symbolische, indem „man bspw. gewisse Dinge nicht tut, Schwellen und Barrieren – nicht nur innerhalb der Einrichtung, sondern auch in ihrem Umfeld. Die symbolische und örtliche Öffnung setzt sich in der Ausgestaltung von Beziehungen, in der Arbeit mit Menschen fort, indem Professionelle am lebensweltlichen Paradigma ansetzen sollen. In Einrichtungen lebende, aber auch dort arbeitende Menschen geben ihr Leben nicht an der Garderobe ab, wie Strassen-Kleider, die im Inneren stören. Vielmehr nehmen sie ihren Erfahrungsschatz mit, welcher ihnen hilft, das neue Leben in sozialpädagogischen Settings zu deuten und mitzugestalten. Um dies wahrzunehmen und zu nutzen, ist ein Perspektivwechsel notwendig: Kinder und Jugendliche, die es ein bisschen schwerer im Leben hatten, sind nicht einfach per se „gestörte Menschen“, sondern ihr soziales oder familiäres Umfeld gab ihnen nicht ausreichende Möglichkeiten, sich zu lebenstüchtigen, innerlich gefestigten Menschen zu entwickeln (vgl. Schallberger und Schwendener 2017, S. 7). Doch sie sind auch bereits in vielen Bereichen handlungsfähig und bringen diese Ressourcen mit. Ignoriert man dies, besteht die Gefahr, dass sie durch die Platzierung in eine Anstalt oder ein Heim erst „zu schwierigen Kindern“ gemacht werden (ebd.). Ansatzpunkt professioneller Praxis muss deshalb die subjektive Deutung von der Welt und nicht irgendein diagnostisches Schema sein, das die Menschen in normal und abweichend einteilt. Vollzieht man diesen Perspektivwechsel, wird es in organisationeller Hinsicht plötzlich sinnlos, nur die eigene Institution, die eigene professionelle Logik im Blick zu haben. Fragestellungen, die sich aus der alltäglichen Gestaltung einer Institution ergeben, sind nur dann lösbar, wenn die Zusammenarbeit zwischen Insassen, Professionellen und Einrichtungen funktioniert und bisherige institutionelle Grenzen durchbrochen werden: Neue Ressourcen und Möglichkeiten für die Adressatinnen und Adressaten können erschlossen werden, wenn sich die Einrichtung als Teil eines Unterstützungs- und Kooperationsnetzwerkes in einer Gemeinde, eines Stadtteils versteht, deren Ziel es ist, den Menschen bei der Bewältigung von Lebensherausforderungen zur Seite zu stehen. Dies führt zu einem Denken, das weit über die fallbezogene Arbeit hinaus geht.

Legt man diese unterschiedlichen raumrelevanten Dimensionen, die örtliche, die menschliche und die organisationelle, übereinander, ergibt sich daraus ein Raum in Form eines dynamischen, sich ständig (re-)produzierenden Geflechts sozialer Praktiken. Diese Raumvorstellung entspricht ganz und gar nicht der Vorstellung von Raum, wie wir ihn aus dem Geometrieunterricht kennen: als starre, dreidimensionale Box, in der sich der (graue) Alltag abspielt. Vielmehr entspricht dieser Raum einem Beziehungsgeflecht, in welchem Professionelle wie Adressat*innen gleichermassen eingebunden sind und mitgestalten. Ein Geflecht, in welchem Objekte ebenso eingebunden sind wie die gesellschaftlichen Vorstellungen der Welt, die bewirken, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen öffentlich problematisiert und damit stigmatisiert werden. Damit strukturieren die gesellschaftlichen Vorstellungen die sozialen Prozesse mit, bei denen Räume hergestellt werden und über die Konstruktion von Räumen werden wiederum die gesellschaftlichen Vorstellungen weitertransportiert und neu geschaffen – theoretisch wäre von einem relationalen Raumverständnis zu reden (vgl. Kessl und Reutlinger 2010). Das professionelle Arbeiten mit einem solchen Raumverständnis, die sogenannte Sozialraumarbeit, folgt nicht einem vorgefertigten Methodenkoffer, sondern vielmehr einer „räumlich-reflexiven“ Haltung (ebd.). Diese muss kontextbezogen, gemeinsam mit allen Beteiligten erlernt und entwickelt werden. Sozialraumarbeit impliziert ein alternatives professionelles Verständnis, welches nicht auf überkommenen technokratischen Vorstellungen beruht. Oder um auf den Song von Peter Schilling zurückzukommen: Zwar ermöglicht die Position von Major Tom, der aus nicht klaren Gründen nie mehr auf die Erde zurückkehren wird, das Geschehen auf der Erde zu beobachten und den Sinn wissenschaftlicher Experimente zu hinterfragen. Da sich alle blindlings auf die Technik und das Funktionieren des erst einmal perfekt laufenden Expertensystems verlassen, wird die Schwäche erst deutlich, als es zu spät ist und man die Kapsel von der Erde aus nicht mehr kontrollieren kann. Major Tom in der Kapsel drin merkt nicht, dass ihr Kurs nicht stimmt und diese in die Unendlichkeit des Weltalls trudelt: „Hallo Major Tom, können Sie hören?‘ ‚Woll’n Sie das Projekt denn so zerstören?‘ Doch er kann nichts hör’n. Er schwebt weiter. Völlig losgelöst von der Erde …“ (Schilling 1982). Ein letzter Gruss an seine Frau und dann ist er gar nicht mehr erreichbar für die Erde, „und er verstummt“ (ebd.).

Literaturverzeichnis
Goffman, Erving. 1973 [1961]. Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kessl, Fabian und Christian Reutlinger (Hrsg.). 2010. Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schallberger, Peter und Alfred Schwendener. 2017. Erziehungsanstalt oder Fördersetting? Kinder- und Jugendheime in der Schweiz heute. Köln: Herbert von Halem Verlag.
Schilling, Peter. 1982. Major Tom. (völlig losgelöst).
Lesetipps:
Diebäcker Marc und Christian Reutlinger (Hrsg.). (2018). Soziale Arbeit und institutionelle Räume – explorative Zugänge. Wiesbaden: SpringerVS.
Reutlinger, Christian. 2017. Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein sozialgeographisches Lesebuch. Zürich: Seismo.

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