Vom Zugfahren

Zugfahren ist ein echtes Erlebnis. Besonders wenn man regelmässig auf Schienen unterwegs ist, fallen einem doch die einen oder anderen Dinge auf. Ein Erfahrungsbericht.

Karin Morgenthaler

Alles beginnt morgens, wenn ich – bestenfalls mit einem Coffee to go – am Bahngleis stehe und auf dem Zug warte, welchen ich in der Ferne nahen sehe.

Kaum fährt jener dann tatsächlich ein, kommt Bewegung in die scheinbar müde Menschenmasse. Es wird versucht, möglichst dorthin zu stehen, wo die Türe des Abteils vermutet wird. So bilden sich also Trauben und das Stoppen des Zuges wird sehnsüchtig erwartet.

Hält der Zug an, dann wird es meist etwas chaotisch.

Einerseits wollen und müssen Menschen aussteigen, andererseits wollen und müssen Menschen hinein. Die unausgesprochene Regel des „man wartet, bis die Leute ausgestiegen sind“ wird von vielen befolgt – jedoch nicht von allen. Sind solche „Zuganarchisten“ in der Menschentraube vor der Zugtüre, gerät das ganze System durcheinander. Systemtheoretiker werden ihre wahre Freude daran haben! Plötzlich drängeln sich auch Leute an den aussteigenden Menschen hinein, die sonst jeweils warten. Ein wunderbares Beispiel, dass Menschen Herdentiere sind – sobald einer etwas tut, gibt das die Legitimation, gleich zu handeln.

Irgendwann ist die Phase des Einstiegs vorbei und dann ändert sich scheinbar schlagartig die „Geselligkeit“ der Menschen. Was zuvor total okay war – nämlich das dicht an dicht Aneinanderdrängen und weniger als eine Armlänge Abstand – ist nun völlig unangenehm. Die Platzwahl gestaltet sich als kompliziertes, eigensinniges Vorhaben. Glücklich, wer als erster den Platz aussuchen darf – am liebsten am Fenster und Fahrtrichtung vorwärts. Der nächste setzt sich meist gegenüber hin – diagonal, versteht sich. So füllen sich Viererabteile mit jeweils zwei Menschen. Höchst selten sitzen drei oder gar vier Personen in einem Abteil – das wäre ja viel zu eng! Nein, dann stehen die Leute lieber von Romanshorn nach Wittenbach, denn im Stehen hat man genug Platz und ist nicht so dicht an den anderen dran.

Heisst es „nächster Halt: deine Station“ ändert sich die Dynamik abermals. Was bei Flugreisen bekannt ist, zeichnet sich auch auf den Schienen ab. Frühzeitiges Aufstehen sichert einem den garantierten Ausstieg, möchte man meinen. Abermals bilden sich Menschentrauben – diesmal ganz genau vor der Türe (man weiss ja schliesslich, wo die ist). Und auch wenn noch fünf Minuten Fahrt vor einem liegen: Hauptsache man ist vorbereitet, sogleich der Zug anhält, auszusteigen. Nun ist es wieder vernachlässigbar, dass beide Körperseiten zwischen anderen Mitreisenden sind – so ein enges Beisammenstehen würde im Notfall auch den Stand verbessern, sollte es eine Notbremsung geben.

Ist Körperkontakt mit Fremden ok, solange ein Ziel verfolg wird, wie das Ein- oder Aussteigen? Hat man jedoch dann „seinen“ Platz gefunden, und folgt eine passive Tätigkeit, nämlich dasitzen und warten, bis die benötigte Haltestelle kommt, schätzt man es wenig, wenn das eigene Knie ein fremdes berührt.

„Sollte dieser Blog nicht etwas mit Sozialarbeit, Sozialpsychiatrie oder Ähnlichem zu tun haben?“, mögen Sie sich vielleicht fragen.

Nun ja, Feldforschung ist ein Thema unter vielen, welche ich in meinem Studium angeschnitten habe. Es hat also im weiten Sinne doch damit zu tun.

Und:

Wäre es nicht einmal spannend, völlig naiv, unvoreingenommen und fragend eine Zugstrecke zurückzulegen und das Verhalten der Menschen genau zu beobachten? Liessen sich dann Verhaltensweisen entdecken, die theoretisch erklärbar werden oder sind? Was machen Sie, wenn Sie Zugfahren? Und wie ist Ihre Erfahrung damit? Erkennen Sie sich wieder in meinem Bericht oder gehören Sie zu den Beobachtenden?

„Das ist ein schöner Zug an dir, sagte der Autofahrer zur Lok und löst eine Fahrkarte.“ – Manfred Hinrich, deutscher Philosoph, Lehrer und Schriftsteller

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top