Wickeln im Zug und der schleichende Verlust des Lebens

Karin Morgenthaler, Sozialarbeiterin,  Mama, Bloggerin, …

Liebe Leserinnen, liebe Leser. Ich hoffe, Sie haben sich gut erholt. Ja, ich hoffe inständig, dass Sie keine bleibenden Schäden davongetragen haben. Falls Sie den Artikel nicht gelesen haben, hatten Sie Glück. Wenn Sie ihn gelesen haben, hoffe ich, dass es Ihnen gut geht. Wenn Sie sogar dabei waren, hoffe ich inständig, dass Sie sich davon erholen werden.

Wovon ich rede? Vom Aufschrei, vom totalen «No-Go», von einer Tat, die unglaublicher, frecher, monströser, verwerflicher nicht sein könnte. Jetzt wissen Sie’s, oder? Nein? Ich helfe Ihnen:

Da hat sich eine Mutter getraut, ihr Baby im Zug zu – halten Sie sich fest- wickeln!

W I C K E L N, im Zug! Nein, nicht auf der Toilette, sondern mitten unter uns, in einem Viererabteil.

Ein «No-Go» sei dies, schreibt eine der auflagenstärksten Tageszeitungen, und bringt diesen «Leserreport» gross raus. Mit Foto der Mutter, die ihr Baby wickelt.

Stellen Sie sich vor, Sie sind im Zug. In einem ziemlich vollen Zug. Mit Baby. Die meisten Eltern empfinden nur schon das ab und an als Stress. Denn, das Kleine darf ja bitte nicht laut sein und um Himmels Willen bloss nicht schreien. Das stresst die anderen Fahrgäste. Setzt man sich also dieser Situation aus und merkt dann plötzlich: hoppla, da ist was in der Windel, gibt es drei Möglichkeiten.

  1. Man lässt das Baby in der vollen Windel, riskiert einen roten Po und – verständlicherweise – Gebrüll.
  2. Man geht mit einem Baby oder Kleinkind auf dem einen Arm, all dem Gepäck fürs Wickeln und ggf. den eigenen Wertsachen im andren Arm, quer durch den vollen Zug, hinein ins SBB-Klo, zum Wickeltisch. Ins Klo, das Erwachsene Menschen oftmals in einem erbärmlichen, stinkenden, ekligen Zustand hinterlassen. Wickelt dort das Kind und schleppt alles wieder zurück.
  3. Man wickelt das Baby kurzerhand auf einer Wickelunterlage auf dem Sitz.

Ich kann mir vorstellen, diese Mutter war schon gestresst. Musste sich genau diese oben genannten Gedanken machen und hat sich schliesslich für die dritte Variante entschieden.

Ja, da ist es doch natürlich und sinnvoll, davon noch ein Foto zu machen. Und das einer Zeitung zu schicken, als Leserreporter. Der Artikel wird publik und endet mit einer riesigen Welle an Reaktionen, ganz viel Unverständnis und Wut auf die Mutter.

Ja, es kann sein, dass ich voreingenommen bin. Trotzdem frage ich mich, ob das wirklich einen Artikel (bisweilen sogar mehrere Artikel) wert war. Eine Mutter, die ihr Kind wickelt, als Schlagzeile?

Andererseits, wenn das wirklich Schlagzeilen wert ist, geht es der Schweiz wirklich gut. «Wickelgate» als grösstes Problem, ja, dann sind wir wirklich verwöhnt.

Ich wünsche der Mutter – und allen anderen Müttern und Vätern – viele Nerven, viel Mut, das Richtige für ihre Kinder zu tun und uns allen Hoffnung, dass unsere Gesellschaft etwas toleranter, lockerer und einfühlsamer wird. Und man vielleicht fragt, ob man helfen kann, statt gleich den Leserreporter zu spielen und zu fotografieren.

«Manche meinen, sie seien liberal geworden, nur weil sie die Richtung ihrer Intoleranz geändert haben.» – Wieslaw Brudzinski, polnischer Satiriker

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Betula-Newsletter

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter und wir informieren Sie über Themen, News und Veranstaltungen von Betula.

Einverständnis Datenschutzerklärung *
Nach oben scrollen
Scroll to Top