„geerdet sein“

Der Umgang mit Gefühlen, beziehungsweise jene zu reflektieren und eine professionelle Haltung dazu zu erlernen, ist immer wieder Teil der Ausbildung in sozialen Berufen. Ist etwas nicht in Ordnung, wenn die Gefühle meines Gegenübers auf mich überschwappen? Oder gehört dies zum Beruf dazu? Ein Versuch, dieses grosse Thema auf einen kleinen Blog zu reduzieren.

Karin Morgenthaler

Sie kennen dies sicher – ob privat, beruflich oder beides: Gefühle, welche direkt vom Gegenüber auf uns zuschiessen und sich in uns aus- und verbreiten.

Ich beispielsweise kenne dies von Bezugspersonengesprächen. Die geballte Ladung Gefühle trifft auf mich – und ich bin ja nicht aus Stein, sondern gehöre zu den Menschen, die Gefühle wahrnehmen können. Trifft also so eine Ladung Trauer, Wut, Hass, Verletzlichkeit, Angst auf mich, macht dies etwas mit und in mir. Plötzlich fühle ich mich ebenfalls traurig und verletzt, ängstlich oder wütend. Was dann?

Nun, dann ist es möglich, dass das Gespräch einen ganz eigenartigen Verlauf nimmt. In meinem Fall ist es so, dass ich – in so einer Situation – dann nicht mehr richtig „ICH“ bin, sondern einen Teil „DU“. Oder ich bin nicht mehr so entspannt. Oder fühle mich nervös – was dazu führt, dass ein Gespräche weniger strukturiert abläuft.

Immer wieder rufe ich mir in Erinnerung, dass  in der Arbeit mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung das Benennen von Gefühlen einen wichtigen Aspekt darstellt. Ich benenne also in jenen Gesprächen direkt wie ich mich fühle und was das mit mir macht. Ich reflektiere mich selber und nehme so den Druck raus – meistens klappt dies ganz gut. Und dies kann auch ein eigenes, persönliches Lernfeld sein. Denn sind wir mal ehrlich: Gefühle auszudrücken will gelernt sein. Vor allem das WIE.

Die Kletterei auf eine Metaebene kann ebenfalls hilfreich sein. Mich zu fragen: Wo stehe ich? Und wo steht mein Gegenüber? Weshalb geht es mir jetzt in diesem Gespräch so? Dafür darf man sich ruhig die Zeit nehmen, auch wenn es mitten im Gespräch ist. Es darf deklariert werden, dass man kurz einen Moment benötigt, um sich zu ordnen. Dies ist auch ein gutes Lernfeld, ganz bei sich bleiben zu können. Es gibt diesen schönen Ausdruck „geerdet sein“ – und genau dieses Erdige hilft, solche Gespräche doch noch zu strukturieren und führen zu können, statt mitzuschwingen.

Denn meiner Meinung nach hilft das Mitschwingen niemandem. Weder meinem Gegenüber noch mir. Vielleicht erzeugt das Mitschwingen zu Beginn eine Besserung. Mein Gegenüber fühlt sich verstanden oder erhält eine Bestätigung, dass die gezeigte Reaktion genau richtig ist – sonst würde ja die Fachperson nicht auch traurig oder zornig werden. Aber über längere Zeit ist es nicht hilfreich, da zum Beispiel zwei wütende  Menschen wenig Konstruktives zu Stande bringen. Und auch mir bringt das Mitschwingen nichts – ausser einem dünnen Nervenkostüm und das Gefühl, nicht mehr abschalten zu können.

„Ganz und gar man selbst zu sein, kann schon einigen Mut erfordern.“ – Sophia Loren, italienische Schauspielerin

1 Kommentar zu „„geerdet sein““

  1. “Erdig” sein und sich doch einfühlen können, ich glaube zur kompetenten Hilfe gehört beides – und bringt sowohl mir (im Sinne des Verstehens) als auch meinem Gegenüber (Würdigung der Situation durch mein Verstehen) sehr viel. Die Krux ist es, wie Sie schreiben, im richtigen Moment wieder aus dem Gefühl aussteigen zu können, wieder nur ICH zu sein.

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