„Ja nicht auffallen!“

Was ist eigentlich Normal? Wann ist ein Verhalten normal und wann ist man als Mensch anormal und was bedeutet das? Und – ist es erstrebenswert normal zu sein? Als ich Schwester Google fragte, spuckte sie fast 70 Millionen Suchergebnisse aus. Duden.de sagt dazu: „der Norm entsprechend; vorschriftsmäßig, so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt (umgangssprachlich) normalerweise (veraltend) in [geistiger] Entwicklung und Wachstum keine ins Auge fallenden Abweichungen aufweisend“.

So. Die allgemeine Meinung also. Spannend. Wer sagt denn, was die allgemeine Meinung ist? Und wer ist die Allgemeinheit? Besteht die nicht aus dem Volk? IST die Allgemeinheit nicht das Volk? Und besteht somit die Allgemeinheit nicht aus allen möglichen Menschen, junge, alte, dicke, dünne, große, kleine, solche, die zur Zeit gesund sind und Menschen, die sich auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum gerade überwiegend auf der kranken Seite bewegen, Menschen mit solchen und Menschen mit anderen Werten, Vorstellungen und Bedürfnissen?

„Keine ins Auge fallende Abweichung.” Ja genau, stimmt, wir kaufen im Kaufhaus ja auch nur Lebensmittel, die alle gleich aussehen. Oh mein Gott, das wäre ja sonst anormal. Mein Gemüse aus dem eigenen Garten sieht also dementsprechend nicht normal aus? Das dreckige, gewundene, geschwungene Rüebli, dessen Samen ich selber – aufgrund meiner fehlenden Erfahrung als Hobbygärtnerin viel zu dicht – gesät, dessen Beet ich in mühsamer Arbeit von Unkraut befreit und das ich schlussendlich mit Freude geerntet habe, soll nicht normal sein?

Wenn wir alle gleich sind, durchschnittlich, wer oder was bringt dann noch Farbe ins Leben? Klar brauchen Menschen etwas, woran sie sich orientieren können und gewisse gemeinsame Nenner. Dazu gibt es ja im Leben (Spiel-) Regeln, so zum Beispiel Gesetze oder gemeinsame Abmachungen. Aber ich erlebe manchmal eine allzu normalitätswütige Welle der angestrebten Gleichheit. Unter dem Motto: „Ja nicht auffallen!“ Wird das dem Individuum gerecht? Finden da Menschen, die zu sich stehen, ihren Platz? Oder fänden sie ihn vielleicht besser, wenn sie willkommen wären, mit ihren nicht der Norm entsprechenden Anteilen? Ok, ich muss zugeben, auch ich gucke manchmal kurz hin, wenn ich eine/n Passanten/-in sehe, der/dem ich beispielsweise das Geschlecht nicht auf den ersten Blick ansehe. Wir Menschen brauchen Schemas, nach denen wir unser Gegenüber einteilen können. Ansonsten sind wir verunsichert. Das ist ganz NORMAL. Aber müssen wir im zweiten Moment darüber urteilen, ob etwas oder jemand normal oder unnormal ist, oder können wir auch einfach Andersartigkeit an sich so stehen und leben lassen wie sie ist? Können wir sie vielleicht sogar als Bereicherung, als weitere Farbe ansehen?

Ich denke, manchmal hilft es wirklich, sich an der Normalität zu orientieren. So machen meine Teamkolleginnen/Teamkollegen und ich dies in unserer täglichen Arbeit im Wohnheim, wenn wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern beispielsweise rückmelden, dass wir eine Abmeldung beim Arbeitgeber auch dann angebracht finden, wenn sie im geschützten Bereich arbeiten. Andererseits ist ein Wohnheim an sich ja doch eher etwas ziemlich Anormales. Es ist eine gestellte Umgebung, ein geschützter Bereich, ein Übungsfeld, aber vor allem ein Zuhause für Menschen mit ihren ganz individuellen, besonderen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Grenzen. Den Menschen, die ich begleite, sieht man meinem Eindruck nach teilweise an, dass sie einen gewissen Rucksack an Erkrankungsweg mit sich herum tragen. Allen sieht man es aber nicht an. Wer von ihnen ist jetzt normal? Für mich sind sie jedenfalls oftmals pure Lebenskünstler, weil sie trotz des Stigmas, welches bezüglich psychisch Erkrankten genauso vorherrschend ist wie der Alkohol an der Fastnacht, ihren Weg zu gehen versuchen.

Die Menschen, die im Betula wohnen, haben normale Ziele, wie z. B. selbständig Wohnen, Lehre abschließen, im 1. Arbeitsmarkt Fuss fassen, einen sorgfältigen Umgang mit Geld. Sie haben allerdings oftmals eine anormal herausfordernde Ausgangslage. Da ist es die Aufgabe von mir und meinen Teamkollegen und Teamkolleginnen, die Bewohner/-innen ihre wertvollen, hilfreichen und befähigenden Gegenstände im Rucksack erkennen und nutzen zu lassen. Somit finde ich, sind die Bewohner/-innen des Betula und sicherlich auch andere Menschen mit psychischen Problemen alles andere als normal. Sie sind oftmals sogar anormal mutig, kreativ und offen, um ihren ganz eigenen Lebensweg zu gehen. Und ich erlebe den Umgang mit ihnen in meinem Alltag oft als Bereicherung. Ist das normal? Müsste es nicht umgekehrt sein? Das ist wohl Ansichtssache, wie so vieles… Was ist schon normal? Möchte ich normal sein? Jain!

Bettina Gmünder

6 Kommentare zu „„Ja nicht auffallen!““

  1. Vielen Dank Bettina! Deine Gedanken haben meine Gedanken bereichert und zum Weiterdenken angeregt. In diesem Sinne, wünsche ich uns allen ganz viel Farbe im Leben.

  2. Das Leben betrachte ich persönlich wie eine bunte Frühlingswiese, wie Berg & Tal, wie die 4 Jahreszeiten und so sind die Personen & Menschen in unserem Umfeld auch.

    Wie farblos wäre unser Leben ohne die grosse Vielfalt im Anderssein,… 🙂

  3. Toller text! Jeder hat eine andere auffassung somit gibts kein richtig oder walsch sondern nur menschen auf dem planet erde grüssli severine

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